Ob es die „serielle Epoche“ wirklich gegeben hat? Pierre Boulez, lange Zeit als einer der Hauptprotagonisten, gar Hohepriester der „Darmstädter Schule“ gepriesen wie geschmäht, meinte dazu im September in Frankfurt nur lakonisch-lapidar: „Das war nur ein kurzer Tunnel.“ Wobei der Terminus schier pfiffig doppelsinnig zu verstehen war: als Situation extremer Hermetik, selbst dogmatischer Enge – aber auch als transitorische Notwendigkeit. Immerhin liegt sie bald ein halbes Jahrhundert zurück.
Aber die Frage – oder auch nur Behauptung – rumort immer noch in den Köpfen, spukt unverändert in den Vorstellungen vom „heroischen“ Zeitalter der Neuen Musik herum; nicht zuletzt im Sinne des allemal reaktionären kulturpessimistischen Reflexes: Früher, ja da gab es noch wahre Größe, heute ist alles Verfall. Entsprechend abgestanden scheinen heute denn auch kritische Verhaltensmuster, denen zufolge Donaueschingen-„Jahrgänge“ pauschal in gute und weniger gute eingeteilt werden – so als ginge es um Kartoffelernte oder variierende Weinqualität. Dabei hat es immer wieder Festivals gegeben, bei denen die Fragen wichtiger, interessanter schienen als die Antworten.
So gewann man auch diesmal den Eindruck eher eines programmatischen Mobiles als den einer eindeutig zu qualifizierenden Leistungsschau der musikalischen Avantgarde. Die Versuchsanordnungen wirkten zumindest kaum weniger produktiv als die Ergebnisse. Ja, sie führten sogar zu geradezu paradoxen Perspektiven-Verkehrungen. So kam es, wie so oft, zu dem, was quasi kommen musste, was alle glaubten erwarten zu können: Das abschließende Orchesterkonzert erbrachte das Wahre, Schöne, Gute – in Gestalt hervorragender Werke von zu Recht renommierten Komponisten, gespielt von einem hervorragenden Orchester unter einem hervorragenden Dirigenten. Insofern hatte alles seine Ordnung, gegen die in diesem Fall auch nicht das geringste einzuwenden wäre. Nur: Es war ein vorhersehbar vorzügliches, dafür aber auch wenig irritierendes Programm, das in zwei Punkten sogar von Ferne an die Tradition des Instrumentalkonzerts anknüpfte. Selbst der Anschein der Dreisätzigkeit wird in Salvatore Sciarrinos „Libro notturno delle voci“ gewahrt. Wobei der Titel „Nächtliches Buch der Stimmen“ möglicherweise eher sowohl auf Stéphane Mallarmés sprachartistische Labyrinthik oder aber den Okkultismus der „schwarzen Romantik“ verweist. Analog wird man das Widerspiel von Solist und Orchester vergeblich suchen. Stattdessen wird man in ein geisterhaftes Netzwerk flüsternder Geräuschklangfetzen hineingezogen, in ein präzise diffuses Feld von Interaktionen des fabelhaften Flötisten Mario Caroli mit den Orchesterstimmen: Im irreal filigranen Hüsteln und Tuscheln fühlte man sich mitunter an klassische Schwarz-Weiß-Horrorfilme erinnert, in manchen quasi raschelnd hauchenden Perkussionseffekten des Bläsers an auratische Flöten-Einsamkeit bei Kurosawa. Selbst die Bambusflöte Shakuhachi kam einem in den Sinn: Kammermusik vom Flüchtigsten. Hat man viel Sciarrino gehört, spürt man die stilistische Homogenität dieses Komponierens. Aber ist das etwa bei Brahms so sehr viel anders?
Bei Beat Furrers (der auch dirigierte) anschließendem „Apon“ (das Abwesende) ergab sich zunächst ein schier osmotischer Eindruck zumindest ähnlich; und zwar sowohl im Rückblick auf Sciarrino als auch auf die instrumentalen Angleichungen in den huschend-gleißenden Kürzel-Feldern. Konkretion bringt die Sprechstimme Helmut Vogels mit einem Text von Händl Klaus. Der zweite Teil dreht die Verhältnisse um: Stimme wie Text verschwinden zugunsten hochexpressiven Ausbruchs und sich immer gelassener weitender orchestraler Imagination semantischer Vokalität: Stimme als imaginärer Raum – ein suggestiv dialektisches Gegensatzpaar. War Furrer vom Gesang eines türkischen Imam angeregt, so lässt Rolf Riehm in „Wer sind diese Kinder“ Hyperions „Schicksalslied“, im Bagdader Arabisch sprechen – und Hölderlins hoher Ton mutiert zur Auratik anderer Art. Vernetzung indes heißt bei Riehm Montage historischer Materialien, Perspektiven und Haltungen zum Zwecke auch politischer Vergegenwärtigung. Dem dienen Verweise auf den Irak-Krieg, Anselm Kiefers Apokalyptik und Giorgio Agambens Analyse des „ausgestoßenen Menschen“, aber auch Anspielungen auf Liszt und Brahms, C-Dur und g-Moll. Natürlich geht es nicht um Neo-Tonalität oder die Allüre des Klavierkonzerts, trotz Nicolas Hodges. Aufklärerisch polemisch operiert er mit Mythen, etwa Hesiods Verdammung des Menschengeschlechts. Und so relativ homogen Sciarrino und Furrer klangen, so disparat werden die Elemente bei Riehm gegeneinander gesetzt. Im Einzelnen mag dies einfach klingen, der Zusammenhang sorgt für komplexe Verfremdung, semantische Widerhaken. Stiftete die Solo-Stimme in den drei Werken unterschiedlich Gemeinsamkeit, so war ihnen zusätzlich die kaum gebrochene Hierarchie von Komponist, Werk, Dirigent, Orchester zu entnehmen.
Dieser Monolithik entgegenzuwirken, war der Ansatz von Mathias Spahlingers „doppelt bejaht – etüden für orchester ohne dirigent“. In anbetracht der derzeitigen Überfokussierung auf einen so entschieden konservativen Pultstar wie Christian Thielemann und die historischen Institutionen in Nostalgie-Städten wie München und Dresden ist solche Zweifelsarbeit nur zu begrüßen. Ähnlich wie Riehm versteht sich Spahlinger nach wie vor als „Linker“ wie als radikaler Avantgarde-Komponist; doch mit Popularmusik hält er es kaum, trotz eines erheblichen Jazz-Faibles. So beruft er sich bei seinem Orchester-Concetto explizit auf Karl Marx und dessen Begriff von „entfremdeter Arbeit“ – also auch des „arbeitsteiligen“ Orchestermusikers – die es aufzuheben gilt: An die Stelle fremdbestimmter Ausführungsroutine soll eigenverantwortete gemeinsame Kreativität treten. Dafür hat Spahlinger das Orchester in Gruppen im Raum verteilt und den Spielenden kürzelhafte Modell-Notationen an die Hand gegeben. Sie sollen sie aufgreifen, individuell variieren, dabei untereinander kommunizieren, in einem insgesamt vierstündigen Prozess ein fluktuierendes Ganzes. Gleichwohl gibt es Reihenfolgen und Regeln. Um freie Improvisation, gar nach Free-Jazz-Art, oder Zufalls-Verläufe geht es kaum. Trotzdem entsteht anfangs der Eindruck quasi aleatorischer oder auch minimalistischer Partikel-Addition, inklusive pizzicati-accellerandi, oder aber auch unaufhaltsamer Akkord-Walzen wie in Ives’ „Robert Browning“-Ouvertüre. Fast harmonisches Ondulieren findet sich ebenfalls; und die Wiederkehr der Vorlagen, die Abweichungen und Interaktionen, Farbentwicklungen ist bunter als sonst bei Spahlinger, mitunter fast gefällig. Dass Vorbilder der siebziger Jahre (Stockhausen, Cage, Schnebel, Globokar, Gehlhaar, Zender, Kupkovic, Wüthrich) in Erinnerung kommen, ist unvermeidlich, auch kein allzu gravierender Einwand. Heikler ist eine womöglich genuin „deutsche“ Komponente: die Systematik, das Durchexerzieren und nichts Auslassen können, der letztlich doch schon wieder oder immer noch autoritär demiurgische Habitus des alles überschauenden Komponisten. Die Freiheit des Einzelnen im Kollektiv ist eine sozial-ästhetische Utopie, bleibt aber eine vertrackte. Doch als Einspruch gegen das Funktionieren im herrschaftsbestimmten Apparat behält „doppel bejaht“ seinen Stachel: Nicht nur das Orchester, auch die Hörer müssen das Stück ständig neu zusammensetzen.
Ähnliches gilt für Manos Tsangaris’ musiktheatralische Installation „Batsheba. Eat The History“. Analog zur Frage, ob und wie ein Orchester individuell autonom Musik machen kann, stellt Tsangaris die Frage: ob und wie es möglich sei, noch zu erzählen. Denn ob Literatur, Theater, Film und Tanz: Das Narrative, die lineare Entfaltung eines Vorgangs in Raum und Zeit, ist schon lange zum Problem geworden. Zumal Tsangaris von einer mythischen Sex-and-Crime-Kolportage ausgeht: der schönen Bathseba im Bade, begehrt von König David, der deren Ehemann umkommen läßt. Eine Erzählung von Ferne und Nähe, Verführung, Gier, Macht und Mord. Wen würde das heute noch interessieren? Tsangaris transponiert die Geschichte in aseptische Wellness-Center, ohne lüsterne Blicke auf selbstgenügsame Körperlichkeit, führt fast sketchartig den Tötungsauftrag vor – und überführt die Konstellation in einen Chat-Room, in dem Mutter, Tochter und Männer ihre Erotik nur elektronisch kommunizieren, bis zum obligat realen Eifersuchtsmord. Die Szenerie freilich entspricht dem üblichen TV-Trash, samt reichlich ungebrochener Frauen-Puppen-Klischees. Tsangaris’ virtuelles Dramolett vollzieht sich an zwei Tagen in sechs Donaueschinger Stellen. Sprechen, Singen, Aktion, chorisch-instrumentale sind nicht minder vielschichtig, mag die Musik letztlich eher harmonisch tönen. Aber vom Ende her gewinnt die Suche nach dem biblisch-heutigen Personal erheblich an Stringenz: Das eigentliche Theater findet im Rezipientenkopf statt, parallel zu Spahlingers Orchester. Zwei Konzerte erwiesen sich als paradoxe Kehrseite des jeweils anderen. „Sound and Space“ hieß das Motto der „NOWJazz-Session“. Frei improvisierte Musik der eher subtilen Art mit ähnlich hochartifiziell effektiver Live-Elektronik. Der Salzburger Komponist Gerhard E. Winkler hat viel mit dem Computer gearbeitet, auch schon bei einem interaktiven Musiktheaterprojekt, „Heptameron“. In „Bikini. Atoll“ hat er sich erstmals mit Improvisatoren zusammengetan, deren Klangaktionen und –Zerfaserungen zusätzlich im Raum zerlegt, zerstäubt, zerstört: ein suggestives hin und her von Impuls, Brechung und Fernerwerden. Auch danach zeigten der Bläser Frank Gratkowski, der Pianist Chris Brown und der Perkussionist William Winant, dass Spiel-Vitalität und mediale Sublimierung sich unerhört befruchten können; ähnliches gilt für das Ensemble Six Plus One.
Mag mancher in solch eher zerebral verfeinerter Musik den „typischen“ frenetischen Jazz-Aktionismus vermisst haben, so wurde dieser im Konzert des eminenten Brüsseler „Ictus“-Ensemble nicht zu knapp nachgeliefert. Im hochvirtuosen Ungestüm, geradezu exzessiver Spielwut wurde da eine Spontaneität hör- und sichtbar, wie man sie mit „Avantgarde“ sonst kaum verbindet. „Swing“ von Franck Bedrossian kombinierte denn auch Jazz-Ekstase und überbordende Bravour nach Art mancher Stücke aus der Donatoni-Schule – nicht eben zimperlich und durchaus plakativ, doch nicht ohne Elan. Ambitionierter ist Raphael Cendos „Introduction Aux Ténèbres“, abermalige Beschwörung der Apokalypse, Schreckensdarstellungen in der wütend-brüllenden lateinischen Textschleuder des Bassbaritons wie in der fast Brutal-Motorik hauptächlich der tiefen Instrumente. Auch das ist überplakativ bis ins Monotone, wahrt aber immerhin einen aggressiven Impuls.
Der Karl Sczuka-Preis für Akustische Spielformen ging an Wolfgang Müllers „Séance Vocibus Avium“ als tönende Vogelschau. Zahllose Vogelarten sind seit Jahrhunderten ausgestorben, und einigen von ihnen wird hier ein akustisches Denkmal gesetzt. Denn nicht nur besitzen wir Beschreibungen ihrer Erscheinung, sondern auch ihres Gesangs. Auf Grund solcher Notate sind die Stimmen quasi rekonstruiert und von Menschen imitiert worden: Ornothologie als Fiktion der Fiktion der Fiktion! Was niemand je gesehen oder gehört hat, wird hier zum Lautsprecherleben erweckt. Solcherart geklonte Originale erinnern an Kagels brillantes Paradoxon von den „authentischen Apokryphen“.
Kagelisch („Rrrrr“) ist auch die Reihung ähnlich klingender Begriffe, Parodie des Lexikalischen. In der Mixtur aus Fake, Natur-Nostalgie und Rubriken-Karikatur hat das Hörstück nicht geringen Witz, so dass man mitunter nicht weiß, was komischer klingt: das Wort oder Piepsen und Gurren. Insofern war sogar für Unterhaltung gesorgt.