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Stegreif Orchestra ION Nürnberg 2024 (c) JM Koch

Zwischen gebundenem und freiem Spiel: Das Stegreif Orchestra beim Nürnberger Musikfest ION. Foto: Juan Martin Koch

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Verwandlungen: Stegreif Orchestra und Cameron Carpenter beim Musikfest ION

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„Kann die Musik die Welt schützen?“ Es ist eine Kinderstimme aus den Lautsprechern, die diese Schlüsselfrage stellt. Zum Auftakt des Nürnberger Musikfests ION versuchte das Stegreif Orchestra Antworten darauf zu finden.

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Als eine „Symphony of Change“, eine „Symphonie des Wandels“, will das 25-köpfige Orchester sein Programm verstanden wissen und setzt mit der Wahl der (Re-)Kompositionen schon einmal ein Statement: Die Werke und deren Neudeutungen, um die der Abend kreist, stammen allesamt von Komponistinnen. So schält sich aus den naturhaften, atmosphärisch gut verdichteten Geräuschklängen der durch die Sebalduskirche wandelnden Instrumentalisten langsam ein A-cappella-Gesang heraus, der auf Hildegard von Bingens „Ordo virtutum“ zurückgeht.

Werkinseln, improvisatorisch umspült

Weitere Inseln mit Werkcharakter bilden instrumentale Auszüge aus Wilhelmine von Bayreuths Oper „Argenore“, aus Clara Schumanns Charakterstücken op. 5 und aus Emilie Mayers 7. Symphonie. Umspült werden sie von Passagen, in denen einzelne Musiker improvisierend aus dem Kollektiv heraustreten. Diese teilweise zu orchestralem Jazz-Rock tendierenden Ausflüge nehmen sich bei aller Qualität des Musizierens im Vergleich mit „echtem“ zeitgenössischem Jazz ein wenig harmlos aus. Dennoch geht von diesem meist gut getimten Wechsel zwischen gebundenem und freiem Spiel (durchgehend auswendig!) eine kommunikative Kraft aus, die im klassischen Konzertleben allzu oft fehlt.

Insofern gibt das Stegreif Orchestra durchaus eine indirekte Antwort auf die eingangs zitierte Frage. Dass die im Prinzip schlüssige Dramaturgie durch besagte Stimme immer wieder mit kindlich erhobenem Klimawandel-Zeigefinger durchbrochen und eine Topfpflanze unter Urschreien in die Höhe gereckt wird, nimmt dem sehr wohlwollend aufgenommenen Auftritt aber einiges von seiner Wirkung, die eigentlich aus der Musik selbst kommt.

Carpenters Bach

Ist Cameron Carpenter ein Organist des Wandels? In jedem Fall ist er ein Künstler, der die Wahrnehmung seines Instruments kraft seiner Popularität verändert hat. Sein Bach-Recital an der Peter-Orgel in St. Sebald zeigte ihn auf der Höhe seiner virtuosen Kunst, machte aber zugleich deutlich, wo sein zum Teil sehr freier Zugriff an seine Grenzen stößt.

Setzt er in den Bearbeitungen zweier Präludien und Fugen aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers (BWV 870 und 880) durchaus auf Klarheit der Stimmführungen (mit einer herrlichen, an ein Blockflötenconsort erinnernden Registrierung in der F-Dur-Fuge), so macht er aus anderen Werken eher Klangfarbenstudien. In den besten Momenten (Fantasie aus BWV 537, Präludium aus BWV 552) entsteht durch die Schichtung der Register eine faszinierende Staffelung aus Vorder-, Mittel- und Hintergrund, an anderen Stellen führt das rhythmisch äußerst elastische Spiel aber ins Ungefähre.

Nach der Pause folgte Carpenters zum Teil extravagante, immer aber stimmige Sicht auf Bachs Goldberg-Variationen. Dabei unterstrich er im ersten Teil die Dreiergruppen durch einen freieren, fast improvisierenden Stil in den jeweils ersten beiden Variationen, denen mit den Kanons zurückgenommene Reflexionen folgten. Die Scharnierstelle zum zweiten Teil markierte er mit einer fast jenseitig entrückt wirkenden, verstörend ins Offene endenden 15. Variation und einem anschließenden, zunächst für sich stehenden Arpeggio als Auftakt zur Ouvertüren-Variation Nummer 16.

Im zweiten Teil brach Carpenter die Gruppen stärker auf, setzte in Variation 20 funkelnde Oberstimmenakzente, brillierte in den tokkatenartigen Variationen 26 und 29 und fand in der ganz nach innen gerichteten 25. Variation zu einer berückenden Mischung aus Transparenz und Verunklarung. Mit Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542 setzte Carpenter noch ein spektakuläres Ausrufezeichen hinter seinen umjubelten Auftritt.

Das Musikfest ION läuft noch bis 7. Juli, Infos unter
https://musikfest-ion.de/

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