Hauptbild
„La Vie Parisienne“. Foto: Volksoper Wien
„La Vie Parisienne“. Foto: Volksoper Wien
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Verwechslungskomödie im Zeitalter der Smartphones – Offenbachs „Pariser Leben“ an der Volksoper Wien

Publikationsdatum
Body

Frieder Reininghaus stattete der Volksoper Wien einen Besuch ab und sah nur Bahnhof in Yves-Klein-Blau. „Das Offenbachsche Ideal, durch Gelächter der Vielen menschliche Unzulänglichkeiten der hochgestellten Einzelnen zumindest einzudämmen, ist von einer Wirklichkeit desavouiert worden, von der die Theatermacher in Wien keine Notiz nehmen.“

„La Vie Parisienne“ bedient den Mythos der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy schrieben allerdings nicht im Auftrag oder mit einer Finanzspritze des Bureau de Tourisme der französischen Metropole, sondern plauderten aus, was für die meisten offiziellen Ohren wohl lieber nicht so deutlich formuliert worden wäre. Der dreiste, frivole und fragile Text kombinierte die hinreichend kenntnisreichen Nahaufnahmen von abenteuerlichen Abgründen des  (a-)sozialen Lebens im Paris des Jahres 1866 mit Projektionen, das sich auf die „Lichterstadt“ richteten.

Von Fernweh und Sehnsüchten der Zone unter der Gürtellinie getrieben macht sich der alternde Baron de Gondremarck mitsamt seiner jugendfrischen Gattin von seinen schwedischen Landgütern auf über die Ostsee, durch Niedersachsen, Belgien und das öde Nordostfrankreich, um mit dem Thalys einzulaufen. Gondremarck – das ist an der Volksoper Kurt Schreibmayer. Er wurde so als sozialdemokratischer Ministerialbeamter oder Musterdiplomat ausstaffiert, dass er sich naht- und problemlos zur Neuen Hofburg begeben und in eine der nicht enden wollenden internationalen Verhandlungen über Klimaschutz einklinken könnte.

An der Gare du Nord (im Original: Gare de l’Ouest) laufen zunächst die Handlungsstränge zusammen und auseinander. Zunächst treffen dort beim Warten vorm kühlblauen Rundhorizont und den aktuellen Schriftzügen der Endstation zwei ehemaligen Freude aufeinander: Bobinet, dem Rasmus Borowski gekonnt die Züge eines agilen Danilo verleiht, und Gardefeu – Daniel Prohaska, auf dem als beliebtem Sängerdarsteller die Hauptlast bei der sich nun entspinnenden Verwicklungen liegt. Metella, seine Ex und aktuell eine vom Leben schon etwas angeknabberte Escort-Mitarbeiterin, trifft mit neuem Lover und dem Regionalexpress von Rambouillet ein. Das führt zur raschen Ernüchterung der beiden Society-Männer hinsichtlich der Option Metella. Der neuerlichen Verbrüderung folgt das zumindest taktische Bündnis zur Bereinigung des erotisch-sexuellen Marktes. Für die führt die Drehbühne verschiedene Straßenecken heran. Sie sind allesamt in intensives Yves Klein-Blau getaucht und von den Spuren befreit, die die Nagezähne der Zeit an Häusern zu hinterlassen pflegen. Der Regisseur Michiel Dijkema macht keinen blauen Dunst vor, bläut aber die Künstlichkeit der von ihm angebotenen Pariser Lebenswelt ein.

Dann taucht das Ehepaar Gondremarck mit einem Berg von antiquierten Koffern auf. Indem die beiden Skandinavier – jeweils auf individuelle Weise – in die einschlägigen Luxus- und Lasterzonen eintauchen (wollen), zeichnet sich ein schier unlösbares Problem ab: Einerseits muss, schon aus Gründen der musikalischen Stilhöhe, dem Werk eine hinreichende Dosis jener Patina zu belassen, das es von Anfang an hatte und in den eineinhalb Jahrhunderten seit der Entstehung zusätzlich angesetzt hat; zugleich will es optisch wie akustisch auf die Höhe des Jahres 2015 gehoben werden.

Der dem Zweiten Kaiserreich verhaftete Text wurde von einem Herren-Quartett aufbereitet. Die neue Pointierung lässt die beiden Tunichtgute schon am Bahnhof zur Beschlussfassung gelangen, dass die Zielsetzung von nun an „Frauen mit Stil“ sein sollte. Das erste Objekt der neuen Agenda ist die Baronin – Caroline Melzer gibt die Freundin der französischen Oper mit kühlblondem Charme, als wäre sie eine Ikone der 1920er Jahre. Ihretwegen wird eine Verkleidungskomödie angestrengt, die heute noch absurder anmutet als im hohen 19. Jahrhundert. Raoul Gardefeu tauscht Rolle und Outfit mit einem Fremdenführer, gibt seine Wohnung als Dependenz des Grand Hotels aus, improvisiert dort mit der kleinbürgerlich-multikulturellen Nachbarschaft am frühen Abend eine Table d’hôte. Am späteren Abend im Appartement von Freund Bobinet, der sich hastig ins nicht ganz reißfeste Kostüm eines Schweizer Admirals zwängt, eine mitternächtliche Souper-Party mit Mitgliedern der „angesagten Gesellschaft“ – alles schräg: Major McDonalds ist für die Haute cuisine zuständig, die Schuhverkäuferin Gabrielle für den dernier crie. Vorzüglich katapultieren die Spitzentöne von Elisabeth Schwarz die Ensemble-Schlüsse ins Stimmungs-Hoch. Die dreimal bemühten Künste der raschen Verkleidung werden durch Lieferwägen der Pariser Nationaloper ermöglicht. Sie haben allemal relevante Teile des Kostümfundus geladen und die Fahrer werden beim Halt am Zebrastreifen von einer der Bordsteinschwalben so lange abgelenkt, bis die Ladung geplündert werden konnte.

Verwechslungskomödie im Zeitalter der Smartphones

In diesen Momenten entwickelt die Inszenierung eine Form der indirekten Rede, die Theatergeschichte mitreflektiert. Denn unmittelbar funktioniert die Verwechslungskomödie im Zeitalter der Smartphones nicht mehr, weil die neugierigen Finger die Prominenz der anderen Gäste erzappen wollten. Michiel Dijema versucht all das, was Meillac/Halévy ankurbelten, zu übersetzen, ohne das Werk zu verletzten. So gelangt seine Produktion über die schönblaue Kosmetik an der Oberfläche nur bei der Gestaltung der Partie des Brasilianers substantiell hinaus. Boris Pfeiffer schmettert das von Sébastien Rouland vom Orchestergraben her energisch angekurbelte Highlight „Ich komme von Basilien her und bin ein Multimillionär“ nicht an Gleis 6, sondern an einem scharfen Häusereck – als Zuhälter, der es durch Schürfrechtvergabe am Pflasterstrand zu einem Vermögen brachte.

Das Pariser Leben und Lebensgefühl erfuhr zu Beginn des Jahres 2015 aus den bekannten Gründen eine einschneidende Veränderung. Operette ist eine Kunstform, die oberhalb der in ihren Tiefen lauernden ewigen Wahrheiten sich durch Oberflächen auszeichnet, die in hohem Maß ‚Zeitkunst‘ sind. Das Fernbild der Pariser Verworfenheit hat plötzlich einen ganz anderen Farbstich bekommen, das der Weltläufigkeit erscheint in ambivalenter Schärfe und das Hohe Lied auf den friedlich koexistierenden Multikulturalismus, das Dijemas Inszenierung anstimmt, ist schal geworden. Das Offenbachsche Ideal, durch Gelächter der Vielen menschliche Unzulänglichkeiten der hochgestellten Einzelnen zumindest einzudämmen, ist von einer Wirklichkeit desavouiert worden, von der die Theatermacher in Wien keine Notiz nehmen. Müssen sie ja auch nicht. Die Halle wird auch ohne dies voll und die Stammkundschaft ist froh, dass die schönen Damen und Herren des Staatsballetts so ansprechend die Beine bewegen und dabei nochmals so herausfordernd mit den Federbüschen wippen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!