Die Kenntnis und Entwicklung der Psychoanalyse macht die Deutungschance für das geheimnisvolle Werk nicht leichter. Denn „The Turn of the Screw“ bleibt auch in Benjamin Brittens Vertonung der 1898 erschienenen Novelle des amerikanischen Romanciers Henry James offen, ob es sich bei den Geistererscheinungen um die krankhaften Halluzinationen der Gouvernante oder aber um die Geister der Waisenkinder, die sie zu betreuen hat, handelt. Für seine erste Regie als neuer Oldenburger Intendant legt auch Georg Decker nicht fest, was nicht festzulegen ist.

The Turn of the Screw – Neima Fischer (Flora), Mélanie Boisvert (Gouvernante), Elias Nickel (Miles). © Stephan Walzl
Verwirrte Seelen im Labyrinth – Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ in Oldenburg
Die junge – namenlose – Erzieherin beginnt mit ganz viel Motivation ihre Aufgabe. Die so schön und verlockend singenden Erscheinungen sind zwei tote Menschen, der ehemalige Diener Peter Quint und ihre Vorgängerin Miss Jessel. Schnell meint sie, dass die Erscheinungen auch den Kindern präsent sein müssen, es ihr aber nicht sagen. Zumal die Haushälterin Mrs. Goose erzählt, es habe irgendwas nicht gestimmt im Verhalten der beiden. Da die neue Gouvernante die Kinder unter einem schlechten Einfluss der Toten sieht, will sie diese von ihnen befreien: Dieses Rettungsmotiv verkehrt sich ins Gegenteil, denn die Kinder haben mit den Toten vielleicht durchaus gute Erfahrungen gemacht und die Gouvernante muss erkennen, dass sie die Kinder selbst besitzen will. Mit der Tötung der Erscheinungen für die Kinder tötet sie diese selbst.
Alles bleibt geheimnisvoll mehrdeutig und es entstehen immer mehr Fragen: Hat die alte, jetzt noch vorhandene Haushälterin aus Eifersucht das Liebespaar Quint und Jessel umgebracht? Lehnt Quint seine Geliebte Jessel ab, weil er eine homoerotische/pädophile Beziehung zu Miles hat? Erkennt die Gouvernante auf einmal, dass sie selbst die besitzergreifende Nachfolgerin ihrer Vorgängerin ist? Hat es auf beiden Seiten einen definierbaren Kindesmissbrauch gegeben – sicher, vielleicht, wahrscheinlich?
Überflüssig, zu sagen, wie aktuell die Thematik ist. Heckel legt grundsätzliche Macht, die Erwachsene über Kinder haben, betroffen machend offen. In den Hauptrollen hauptsächlich Gäste: die Kanadierin Mélanie Boisvert als Gouvernante hat das großartig bewältigt, der erst elfjährige Elias Nickel vom Knabenchor Gütersloh formte seinen hochbegabten Miles in Stimme und Spiel als ein Geheimnis, das sich dem Publikum auch immer wieder entzieht, Neima Fischer als brave und lernbegeistere Flora, Johannes Leander Maas als belkantesk-verführerischer Quint, Monika Walerowicz von der Staatsoper Hannover als dauerängstliche Haushälterin, die am Ende die einzige ist, die die Kinder wirklich retten will. Weiter bedrohlich intensiv Adréana Kraschewski als frustrierte Miss Jessel.
Die komplexe Partitur, eine der wichtigsten und substantiellsten von Britten, war bestens aufgehoben in Händen von Hendrik Vestmann. Er entlockte den 13 MusikerInnen bemerkenswerte virtuose Leistungen für eine punktgenaue Klang- und Farbenvielfalt, die neben der Szene ebenfalls stets mitriss. Schon zu ihrer Entstehungszeit – 1954 in Venedig uraufgeführt – war Brittens Musik sicher kein Dokument avantgardistischer Bilderstürmerei, aber das von ihr zu erwarten, hieße an ihren Schönheiten und inhaltlich präzisen Formen für das „Anziehen der Schraube“ – wie dem zwölftönigen Anfangsthema, den Variationen und der Passacaglia u.v.a. – vorbeizuhören. Das abstrakte Bühnenbild aus nebeneinander geschobenen Kästen von Timo Dentler und Okarina Peter trug Seine zur geheimnisvollen Atmosphäre bei. Ein ganz großer Theaterabend, nach anfänglicher Betroffenheit steigerte sich der Beifall zu Ovationen.
- Nächte Aufführungen: 23., 28. und 30.3., 3., 6., 12., und 27.4. und 2. und 22.5.
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