Dass das Programmbuch der 35. Ausgabe des Festivals „Wien Modern“ diesmal deutlich dünner ausfalle als sein Vorgänger, wurde mir zwar kolportiert, doch hat man immer noch ein gutes Kilo Buch im Eröffnungskonzert auf dem Schenkel. Richtig so, denn das einen Monat währende, größte Festival für zeitgenössische Musik in Österreich, das bereits seit 29. Oktober läuft, geizt weder mit Veranstaltungen noch mit spannenden Essays rund um die Aufführungen. Gemäß dem diesjährigen Motto „Wenn alles so einfach wäre – 100 Versuche über den Umgang mit Komplexität“ darf man sich als wissensdurstiger Besucher aus dem Programmkalender (96 Veranstaltungen mit über 70 Ur- und Erstaufführungen) und dem Essayband seine eigene Komplexität basteln, und nimmt noch zum Eröffnungskonzert eine unkonventionelle Einführung mit, in der der künstlerische Leiter Bernhard Günther sich von Studierenden fragen lässt, wie man überhaupt so ein Festival baut.
Und plötzlich werden die Basics wieder interessant, da man sich ja gefühlt im Jahr nullkommafünf nach Corona befindet und das „wenn alles so einfach wäre“ ohnehin ständig auf der Zunge liegt, auch außerhalb der Konzertsäle. Günthers Festivalteam zeigt sich glücklich über die einschränkungsfreie Bespielbarkeit der vielen Locations in Wien, und in den ersten Tagen von Wien Modern beobachtet man einen ziemlichen Musikhunger der Besucherinnen und Besucher – sogar Kammerkonzerte zur Vorabendzeit oder in Spielstätten jenseits des Gürtels sind gut gefüllt.
Kontinuität und Vielfalt
Wien Modern zeigt auch 2022 eine beneidenswerte Vielfalt und Kontinuität in der Qualität, wobei sich Günther auf eine quirlige Wiener Musikszene, die ständig Neues auch von bewährten Namen gebiert, ebenso verlassen kann, wie auf hochkarätige Ensemble- und Solistengastspiele. Exklusiv entstandene Neuproduktionen des Musiktheaters ziehen besonders starkes Interesse auf sich, und wenn so etwas Symbiotisches dabei herausspringt wie René Clemencics ätherisch-uriges „Kabbala“-Oratorium, das von einem hervorragenden Kammer(-vokal-)ensemble unterm Sternenhimmel im Planetarium Wien dargeboten wurde, dann ist das zwar noch nicht die halbe Miete für’s Festival, aber schon wieder ein Achtungszeichen der Lebendigkeit. Der Wiener Dirigent und Organist Clemencic (1928–2022) war natürlich über Jahrzehnte ein Doyen der Alten Musik, aber als Komponist kaum bekannt. Dem österreichischen Sirene Operntheater sind mehrere Wiederentdeckungen und die kontinuierliche Pflege seiner Musik zu verdanken, die eine einzigartige Kühle und Strenge atmet und daher fast perfekt zu den unendlichen Proportionen und der erfahrbaren Schönheit der Gestirne passt. Zuvor tischten die Wiener Symphoniker im Eröffnungskonzert reichlich auf: Wenn die Abende so weitergegangen wären, hätte man eher von einem Klassik(er)festival sprechen müssen: Kurtág, Lachenmann und Gubaidulina in einem Konzert! Oder auch: die Alten machen’s vor…?
Irgendwas war dran, denn Lachenmanns „Tableau“ (1989) oder Kurtágs „Stele“ (1994) klangen so frisch und lebendig wie am ersten Tag, und auch Gubaidulinas brachial-ehrliche Fantasie „Der Zorn Gottes“, nun erstmals vor Publikum in Wien aufgeführt, konnte in den Händen von Dirigent Matthias Pintscher schlicht durch seine direkte Ansprache eine Grenze überschreiten, an der sich das Hirn vor der Pause noch gefragt hatte: „muss es denn immer komplex sein?“ Letztendlich geht es ja nicht nur um das permanente Hinterherkommen und Entschlüsselnmüssen beim Hören, so ein Kurtág-Stück ist ja primär auch eine tiefe hörsinnliche Erfahrung. Pintscher hatte selbst noch sein neues Violinkonzert „Assonanza“ mitgebracht, das die Solistin Leila Josefowicz in überzeugende Klangrede, schließlich in einen großen Monolog mit verstummtem Orchester goss.
Dieser Anfang von Wien Modern machte viel Appetit auf mehr und nahezu täglich tönte es nun aus dem Konzerthaus oder besonderen, per Wandeln und Innehalten entdeckbaren Spielstätten wie den Museen, Szenelokalen oder dem „Reaktor“ in Hernals. Vom noch pandemiegeschüttelten 21er-Jahrgang wurden Aufführungen nachgeholt, wie etwa der Abend mit dem Mondrian Ensemble, der sich Musik der Komponisten Martin Jaggi (Basel) und Thomas Wally (Wien) widmete.
Man witterte hier schon den perfekten Themenabend zu einer bestimmten Art von Komplexität, die ja in den Neunzigern als Genre schon einen gewissen Ruch hatte und bekam diese nostalgische Ebene hier auch geboten, doch hatte man natürlich dabei die Rechnung ohne Olga Neuwirth gemacht, die später ihre „in einer Art trotziger Selbstvergewisserung“ während 249 Tagen Konzertverbot in der Pandemie komponierte zehnstündige und sechsteilige „coronAtion“ für Ensemble(s) vorstellte, die weniger mit erschlagender Fülle als vielmehr mit konzentriertem Halten, Veränderung und gezielten Impulsen zu tun hatte.
Opulente Klänge
Die Aufführung im MAK (Museum für Angewandte Kunst) fand in der Opulenz sowohl ein Pendant in Georg Friedrich Haas’ weithin hallender „Ceremony II“, einem vierstündigen Klanglabyrinth im Kunsthistorischen Museum, als auch in Morton Feldman, dessen ebenfalls vierstündige Komposition „For Philip Guston“ gleich im Loop in der Albertina gegeben wurde, wozu man Georg Baselitz’ Gemälde betrachten konnte oder sich sitzend oder liegend fragen durfte, ob das nun komplex oder einfach sei. Baselitz bildete in Kooperation mit dem Musikverein zudem einen kleinen Schwerpunkt in wechselnder Perspektive zwischen Musik und bildender Kunst.
Interessant im Hinblick auf das Festivalthema war auch, dass es Konzerte gab, die gar nicht so komplex schienen, sich aber als „schwierig“ erwiesen, weil deren Stimmung sich beispielsweise kaum von einer melancholischen oder gar dystopischen Ausgangslage wegbewegen wollte, das traf etwa für das Kammerkonzert von Johanna Vargas (Sopran), Marcus Weiss (Saxophon) und Uli Fussenegger (Kontrabass) zu, die sich zwar exzellent um neue Werke von Katharina Rosenberger, Klaus Lang und Nadir Vassena bemühten, aber deren fast auf der Stelle (oder auf dem Sujet) herumtretende Musiksprache trotz aller Unterschiedlichkeit in allen drei Fällen nicht überzeugte.
Altes Neues und neues Neues
Ganz anders wiederum das Gastspiel des Ensemble Recherche, das Lachenmann und Sciarrino mit spritzigen Uraufführungen von Kristine Tjøgersen und Annesley Black verbandelte. Hier wurde die Komplexität in bohrende Nervigkeit überspannt, und gerade die neuen Stücke wirkten wie konsequent durchgezogene Etüden: Die Norwegerin Tjøgersen (geb. 1982) kümmerte sich um verschwindende Ozeansounds, während die Kanadierin Black (geb. 1979) Akustikforschung im Badezimmer zu einem kleinen Horrortrip zusammenstellte. Das Sahnehäubchen lieferte am Ende Helmut Lachenmann mit seinem zweiten Streichtrio „Mes Adieux“ (2022), eine saftig-knackige halbe Stunde hochkonzentrierter Musik, die explizit zwischen sensitiver Rückschau und knochigem „Lasst mich!“ formuliert, aber niemals fabuliert. Und wer da Abschiede liest (und leider auch tatsächlich hört), hofft doch am Ende inständig, dass Lachenmann damit nur eine Bushaltestelle um die nächste Ecke meint.
Nahezu irre erscheint dann noch der Umstand der doppelten Einspringer für die erkrankte Recherche-Geigerin Melise Mellinger: Jacobo Hernández Enriquez übernahm in gleich drei Stücken, während Nurit Stark sich in kaum mehr als zwei Tagen das komplette Lachenmann-Trio erarbeitete – Chapeau!
Das im Konzerthaus Wien vom ORF Sinfonieorchester unter Marin Alsop bestrittene Gedenkkonzert für den kürzlich verstorbenen Kurator und Mitbegründer des Festivals Lothar Knessl schließlich geriet, sicher ganz in seinem Sinne, zu einem genüßlich-diversen Plädoyer für neue und neueste Musik, bei dem neben tollen neuen Stücken von Matthias Kranebitter („60 Auditory Scenes for investigating Cocktail Party Deafness“) und Mirela Ivicevic („Black Moon Lilith“) die diesjährige Erste Bank-Kompositionspreisträgerin Sara Glojnaric mit „sugarcoating #4“ aufhorchen ließ. Ihre „mikromechanische Perfektion“ biss sich in den Gehörgang und bot eine weitere sinnfällige Reaktion auf das Motto „Wenn alles so einfach wäre“ an, die über bloßes Musiksein hinausweist.