Jenseits der politischen Problematik mit Putins Russland besteht der Frankfurter und Erler Intendant Bernd Loebe auf künstlerischer Normalität. Festspiele erheben ja den Anspruch, das Besondere zu bieten, über das bisherige Angebot hinaus. Dem wird Erl mit seiner Neuinszenierung im Winter-Festival voll gerecht: Nicolai Rimski-Korsakows 1882 in St.Petersburg uraufgeführtes „Schneeflöckchen“ taucht ganz selten in den Spielplänen auf, obwohl der Komponist es für sein bestes Werk hielt. Und dafür sind auch russische Künstler bestens geeignet.
Vielerlei statt sensibler Deutung – Rimsky-Korsakows „Schneeflöckchen“ bei den Tiroler Festspielen in Erl
Mit Prolog und vier Akten, mit einer reinen Musikdauer von dreieinviertel Stunden reiht sich das Werk ganz in die epische Breite russischer Erzähltradition ein – und wirkt damit auch etwas aus der Zeit gefallen, deutlich anders als das oft gedrängte, beschleunigte Zeitgefühl westlicher Bühnendramatik. Erst recht in unseren Zeiten der Kurzfassungen. Reizvoll wirkt der aus der russischen Märchentradition und animistischen Religionsvorstellungen früherer Epochen gemischte Inhalt: das von Mutter Frühling und Väterchen Frost geborene Schneeflöckchen will in der Wirklichkeit leben und lieben; um alle Emotionen kennenzulernen, wünscht es unter Menschen zu sein und wird von den Eltern nur vor dem Sonnengott Jarilo mit seinen gefährlichen Strahlen gewarnt; bei einem Naturvolk findet es Aufnahme wie Ablehnung; das von einem sanften Zaren in seinem utopischen Reich verordnete Liebesfest – um das „Blühen“ der Sommersonne zu beschwören - beschert Schneeflöckchen zwar die erhofften Emotionen, doch zwischen Eifersucht und Liebe, zwischen herrischer und künstlerisch zarter Männlichkeit trifft sie am Ende doch auch der Sonnenstrahl; sie schmilzt in den Tod, während um sie herum die Sommersonne gefeiert wird.
All das hat das Bühnenteam um Florentine Klepper (Regie), Anna Sofie Tuma (Kostüme), Wolfgang Menardi (Bühne) und Stefan Bollinger (Licht) in eine bühnenweite Kunst-Schneelandschaft verlegt. Doch dann umgeben zwei offene Halbrunde wohl „die Welt“. Drei um ein zentrales Hubpodest auf- und niederfahrende Lattenringe signalisieren mal undefiniertes „Innen“ oder „Außen“. Rustikale Sitzbänke und Stühle sowie heutige Schlichtkostüme samt wenig differenzierter Personenzeichnung ergeben eine beliebig bleibende Mischung aus Abstraktion und Naturalismus. Zum Finale wird kommentarlos „Contende in dulce“ an die Rückwand geklebt – was völlig rätselhaft bleibt – bis hin zu zwei Frauen, die Luftballonbuchstaben für was wohl englische „OBEY“ hochhalten. Gleichfalls fern aller politischen Stellungnahme waren der Zar und sein Adlatus als zeitgenössischer CEO und Bürochef, der Waldschrat als banaler Säufer und Schneeflöckchens Zieheltern als Proll und Modeschnepfe gezeichnet. Die zart-frühlingsfarbenen Hängekleider aller Frauen sollten am Ende wohl den Aufbruch in den Sommer signalisieren. Doch da war die Szene samt herabfahrendem Spot-Scheinwerfer als tödlichem Sonnenstrahl bereits im interpretatorischen Nirgendwo gelandet.
Erfreulich zu erleben waren die musikalische und vokale Seite des Abends. Der russische Dirigent Dmitry Liss machte mit dem Erler Festspielorchester den Farbenreichtum, die motivische Vielfalt und dann auch den dramatischen Ausbruch der Gefühlswelt in Rimski-Korsakows dann aber auch mal nur breiter, ausholender Partitur hörbar. Ein paar Passagen gerieten in der offenen Akustik des Festspielhauses zu laut und animierten auch die Solisten zum „Premierenloslegen“. Den beiden Frauen des Inszenierungsteams etwas „woken Feminismus“ zu unterstellen, geht viel zu weit - dazu war zu wenig Entschiedenheit zu erleben. Eben nur: Schneeflöckchen gerade nicht als zartes Feen-Elfen-Wesen gesehen, sondern mit schwarzer Zottelperücke und am Anfang wie am Ende im rotem Rock – obwohl ihre Musik anderes signalisiert; ihre Konkurrentin Kupawa fern aller Figurenzeichnung nur bullige „body-positivity“ allzu wuchtig verkörpernde junge Frau. Aber Clara Kim bezauberte mit mal leuchtenden, mal süßen Sopran-Flöckchen-Tönen und der üppig-runde Kupawa-Mezzosopran von Nombulelo Yende beeindruckten. Die füllig dunklen Männerstimmen von Aaron Cowley (Zar) und Aldan Smith (Frost und Zar-Adlatus) standen in herrlichem Kontrast zum Prunk-Bariton von Danylo Matvlienko, der protzige Männlichkeit und muskulöses Auftrumpfen vereinte – als Rivale Misgir ein bestechender Konkurrent zum künstlerischen Mittelpunkt des Abends: der oft abseits stehende Hirtenjunge Lel ist auch ein bezaubernder Sänger fein empfundener Lieder – und der jünglingshaft schlanke russische Countertenor Jurli Iushkevich bezauberte als Idealbesetzung. Da waren ätherische Aura und lyrischer Zauber verkörpert und zu hören – jener künstlerische Anspruch, der den Abend zum Festspiel erhoben hätte, wenn…
- Weitere Vorstellungen am 3. und 6. Januar 2024
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