Jährlich in den ersten beiden Oktoberwochen findet in Dresden das „Dresdner Festival der zeitgenössischen Musik“ im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau statt. Seit 2009, als Dieter Jaenicke den langjährigen Intendanten Udo Zimmermann ablöste, trägt es zusätzlich den etwas indifferenten Titel „Tonlagen“ und ist inhaltlich gemäß dem genreübergreifenden Auftrag eines Künste-Zentrums in die Breite gegangen. Wie ehedem gibt sich das Festival weiterhin ein Motto, das in einem musikwissenschaftlichen Symposium und in der Konzertdramaturgie verarbeitet wird – in diesem Jahr: „Populär versus Elitär“. Damit aber ist alles und nichts gesagt, denn unter diese Ägide lässt sich von Nyman bis Xenakis jegliche Musik stellen. Genau das machen die Hellerauer auch frecherweise, allerdings ohne zu hinterfragen, ob eine bloße Neugier auf alles, was erklingt als Kriterium für eine Festivalprogrammierung und -profilierung ausreicht.
In den Konzerten überraschte daher auch die seitens der Veranstalter äußerst gedehnte Interpretationsspanne des Begriffs „zeitgenössische Musik“: Was haben Dean Wareham und Britta Philips, zwei gestandene Rockmusiker, in Hellerau zu suchen? Die seichten Songs, die zu Andy Warhols „Screen Tests“ entstanden, konnten den Film-Porträts jedenfalls nicht gerecht werden. Auch Indie-Pop vermischt mit litauischer Folklore (Fusedmarc mit dem Gesangsensemble Trys Keturiose, das leider im Laptop-Gefummel unterging) war kaum erkenntnistauglich. Hellerau erlag in diesem Punkt leider der Angst und dem Irrtum, die zeitgenössische Musik allein biete zu wenig für Auge und Ohr. Doch dass sich die Musikformen innerhalb der Neuen Musik der letzten zwanzig Jahre erheblich erweitert haben, dürfte gerade an diesem Ort bekannt sein und die nicht immer qualitativ ebenbürtigen Ausflüge in Rock, Pop und Clubkultur rechtfertigen. Intendant Jaenicke, der vom Tanz kommt, scheint gar eine Krise an der Erfolglosigkeit der zeitgenössischen Musik festmachen zu wollen: „Das ist das Darmstadt-Syndrom: Man ist gar nicht daran interessiert, ein großes Publikum zu haben.“ – und manövriert sich damit gleich in die weitgehend unnötige, selbst initiierte Populismus-Debatte hinein.
Diesen selbstreflexiv-intellektuellen Diskurs nahmen die wenigsten Besucher wahr, dennoch strömte reichlich Publikum nach Hellerau, das sich etwa bei „Hasretim – eine anatolische Reise“ der Dresdner Sinfoniker der Auseinandersetzung mit traditioneller türkischer Musik stellte. Im Orchester-Arrangement des deutsch-türkischen Komponisten Mark Sinan entstand eine respektvolle Annäherung und Nachzeichnung einer faszinierenden Kultur des Singens und Tanzens, die in unserer technisierten Welt gefährdet scheint.
Einen Hauch vom guten alten Neue-Musik-Festival gab es in Hellerau auch zu spüren: Ascolta, Resonanz und Courage gaben sich die Klinke in die Hand, wobei den Hamburgern der klassische Konzertabend mit sechs Kompositionen für Streicher vorbehalten war. Ascolta schenkte sich und dem Publikum eine Jennifer-Walshe-Performance namens „The Church of Frequency and Proteine“ – eine zuweilen witzige Science-Fiction-Phantasie, die mit virtuos aufgetürmten Text- und Songcollagen babelsche Verunsicherung schuf. Nicht immer funktionierte der Aufprall der Kulturen: So ließen sich die Zuhörer eines ordentlich komplexen „Avantcore“-Konzertes mit den Ensembles Courage und Steamboat Switzerland mit Kompositionen von Klaus Lang und Michael Wertmüller nicht auf das Dessert mit dem Popkünstler Felix Kubin ein.
Weitere Höhepunkte des Festivals waren Orgelkonzerte mit Werken so unterschiedlicher Künstler wie Ulf Langheinrich und Jörg Herchet und ein Abend mit der Dresdner Philharmonie und HK Gruber, dessen Frankenstein!-Panoptikum auch nach 30 Jahren immer noch Charme versprüht. Kurz vor Schluss gaben sich die Neuen Vocalsolisten Stuttgart mit Fedele und Sciarrino die Ehre und die Kinderkomponistenklasse Dresden präsentierte den Nachwuchs. Fast vergessen schien da schon der missglückte Musiktheater-Auftakt mit „Jacob’s Room“ des amerikanischen Elektronik-Pioniers Morton Subotnick. Eine schon von den Librettoproportionen her kaum ertragbare Erinnerungs-Szenerie aus Holocaust und Minimal Music, Platon und Virginia Woolf, vermixt mit vier Celli und Synthie-Loops – das konnte trotz guter Regie (Mirella Weingarten) keine tragende Wirkung entfalten.
Das in der Debatte gespiegelte Dilemma des Festivals (es ist eben derzeit weder populär noch elitär) könnte gleichzeitig seine Chance sein, kann aber nur durch Konzentration gelingen. Zurück zur Musik, zum Experiment, zur Unberechenbarkeit wäre das Beste, was Hellerau passieren kann. Dieses Jahr führte der Anspruch, an sechzehn Tagen, alles, was im wunderbaren Festspielhaus schön und genresprengend möglich erscheint, präsentieren zu wollen, zu einer allzu bunten Farbpalette, die in der Summe ihre Strahlkraft eher verlor als verstärkte.
Vom 1. bis 16. Oktober 2011 findet das nächste „Tonlagen“-Festival in Dresden statt.