Götz Thieme hat für uns das erste Konzert des fusionierten SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Teodor Currentzis besucht. Auf dem Programm: Die Neunte Symphonie von Anton Bruckner, gefolgt von György Ligetis „Lontano“. „Teodor Currentzis, das war vor dem ersten Takt deutlich, überlässt nichts der Musikbetriebsroutine.“
Als am 22. September 2016 unter Medien-Getöse und grenzwertiger Selbstfeier des Südwestrundfunks das erste Konzert des SWR Symphonieorchesters in der Stuttgarter Liederhalle stattfand, rechneten nur wenige mit der baldigen Benennung eines Chefdirigenten. Zu viel war dem senderseits behaupteten Aufbruch in eine glorreiche Zeit vorangegangen. Wir erinnern uns: aus dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, zwei deutschen Traditionsensembles mit großer und reicher Geschichte (Donaueschingen! Boulez! Gielen! Celibidache! Norrington!) wurde durch Zwangsfusion ein gesichtsloses Ensemble, das sich menschlich und musikalisch zu sortieren hatte, zumal mit der Standortwahl Stuttgart die Hälfte der Mitglieder – Pendeln oder Umziehen? – vor einschneidenden Herausforderungen standen. Kaum vorstellbar schien auch, dass so bald einer der 160 Dirigenten, die mit einem offenen Brief gegen die Fusion protestiert hatten, sich für den Posten gewinnen lassen würde. Man ahnte es, als über Peter Eötvös, der sich bereit erklärt hatte, das Eröffnungskonzert zu leiten, Spott und Kritik hereinbrach – hatte er doch knapp drei Jahre zuvor zu den Unterzeichnern des Protests gehört. Sogar zweifach: auch 148 Komponisten hatten sich zu einer Erklärung verbündet.
Rückblick
Die erste Saison war demnach wenig bemerkenswert, zumal man als zentralen Gastdirigenten Christoph Eschenbach gewählt hatte, der nach Tagesform sehr unterschiedliche Niveaus in den Konzerten erreichte: von fad („Erste“ Mahler) bis akzeptabel („Zweite“ Mahler). Peinlich schwach fielen die Konzerte mit David Afkham und Alejo Pérez aus, und die von Ingo Metzmacher dirigierte siebte Sinfonie von Mahler war vor Kälte und Nichtkommunikation zwischen dem Maître und den Musikern kaum zu überbieten. Obwohl David Zinman, durch Alter und Krankheit geschwächt, nicht intensiv zu proben vermochte, zeugten die Konzerte mit Mahlers Sechster immerhin von dem Potenzial, das in dem Orchester steckt. Auch Cornelius Meister, demnächst Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart, bewies bei Alexander Zemlinskys Orchester-Fantasie „Die Seejungfrau“, dass präzise Proben und genaues Studium von Partituren von Vorteil sind.
Umso überraschender kam Anfang April 2017 die Meldung, dass der 1972 in Athen geborene Teodor Currentzis, von der Saison 2018/19 an die vakante Chefposition in Stuttgart übernehmen würde. Den ebenso umstrittenen wie viel umworbenen Currentzis zu überzeugen, nach Stuttgart zu kommen, kann man nicht anders als einen Meisterstreich von Johannes Bultmann, dem künstlerischen Gesamtleiter der Klangkörper und Festivals des SWR, bezeichnen. Currentzis hat seit er in 2004 in Nowosibirsk und Perm mit dem von ihm gegründeten Orchester musicAeterna (dazu gehört auch ein exzellenter Chor) arbeitet, höchste Aufmerksamkeit erregt, ob bei Mozart oder Schostakowitsch. Currentzis Aufführungen und Aufnahmen tragen den Stempel von Individualität, Quellen- und Partiturakribie, stilistischer Flexibilität und Persönlichkeit. Günstig erwies sich, dass Currentzis mit den beiden SWR-Orchestern gearbeitet hatte (in Baden-Baden und Freiburg war er vor sieben Jahren kurz erster ständiger Gastdirigent). Der Glanz und das Potenzial dieses Namens ließen vergessen, dass auch er zu den Briefzeichnern gehörte, und es 2012 zu einer Posse gekommen war, als Currentzis bei den Donaueschinger Musiktagen das Eröffnungskonzert mit zwei Uraufführungen und einer deutschen Erstaufführung dirigieren sollte. Die Zustellung der Partituren nach Russland erwies sich als ebenso kompliziert wie der Bitte von Currentzis zu entsprechen, Mitschnitte der Werke zu liefern, die ja noch nie gespielt worden waren. Armin Köhler, der damalige Leiter der Donaueschinger Musiktage und inzwischen verstorbene SWR-Redakteur hat aus der Causa ein witziges Radio-Feuilleton gemacht („Schweigen bei Herrn Currentzis. Wie der Dirigent des Eröffnungskonzerts ganz langsam kurzfristig absagte“) – obwohl er damals zwei Wochen vor der Aufführung einen Ersatzdirigenten suchen musste.
Ein denkwürdiger Abend
Vergessen und vergeben, stattdessen allerhöchstes Publikumsinteresse nun an diesem Donnerstag, dem 18. Januar 2018, im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle: Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester musizierten erstmals miteinander. Wird die Chemie stimmen, rechtfertigt das musikalische Ergebnis das Engagement?
Kurz: es wurde ein denkwürdiger Abend. Auf dem Programm stand Anton Bruckners neunte Sinfonie, an dessen letzten Takt sich, sostenuto espressivo, nahtlos György Ligetis „Lontano“ von 1967 anschloss; ein berückender Coup, der elegant und schlagend Bruckners Modernität verlängerte.
Teodor Currentzis, das war vor dem ersten Takt deutlich, überlässt nichts der Musikbetriebsroutine. So hatte er auf großer Streicherbesetzung bestanden (32 Violinen, 14 Bratschen, 12 Celli und zehn Kontrabässe, gerade im Bassregister ist der Beethovensaal etwas resonanzschwach). Und er hatte, im Gegensatz zum „Stuttgart Sound“-Tüftler Roger Norrington etwa, die beiden Violingruppen nicht gegenübergesetzt, sondern zusammen links versammelt. Ein Blick in die Partitur genügt, um diese Maßnahme sofort zu begrüßen: wichtiger sind die oft in Oktaven oder im Unisono geführten Partien der Stimmen, als die wenigen gegenläufigen. Auch garantiert die zum Publikum gerichtete Schallemission der Violinen, dass Bruckners typisch flirrenden Tremolofigurationen im Fortissimo nicht gegen den blockhaften Satz der Blechbläser ins Hintertreffen geraten. Tatsächlich war die Balance meisterhaft, selbst im dreifachen Forte deckten Hörner und Posaunen nie den Streicherchor. Currentzis, wie gewohnt ohne Taktstock, beweglich, nie starr schlagend, wählte einen weichen, atmendem Ansatz, der Bruckners Satz die Härte nahm. Peinlich genau war die Dynamik gearbeitet, besonders in den unteren Stärkegraden: endlich wurde mal wieder unterschieden zwischen zweifachen und dreifachem Piano.
Emanzipation von der Interpretationsgeschichte
Currentzis emanzipierte Bruckner von einer Interpretationsgeschichte, dass man nur staunte. Das erinnerte weder an Wands Strenge, noch an Celibidaches Versenkung in die Breite, sondern war von einem durchgehenden sprechenden Fluss – Resultat einer meisterhaften Zeitgestaltung, nämlich Verdichtung des Geschehens, so dass die erlebte Zeit gegenüber der messbaren verkürzt erschien. Freiheit der Gestaltung innerhalb der Strenge der Architektur ist nur ein Aspekt, aber ein wesentlicher. Currentzis, das kennt man etwa von seinen Tschaikowsky-Aufführungen, hat eine besondere Begabung, thematischen Aufbau- und Abbauprozessen Kontur zu geben, Crescendi werden nie zu früh laut, Decrescendi behalten Spannung. Das führt gelegentlich zu überraschenden Abweichungen vom Text. Im ersten Satz, im Durchführungsteil gibt es eine Überleitung zum dritten Thema, Ferdinand Redlich nennt es eine Gesangsperiode, wie sie typisch für Bruckner sei. Currentzis nimmt nun dieses rhythmisch von Triolen bestimmten Herabgleiten aus der dritten Oktave zunehmend (und gegen jedes Indiz in der Partitur) langsamer – das mag willkürlich sein, die Wirkung aber, nämlich eine Art Meditation, die dann von der Gesangsperiode ab- und erlöst wird, ist magisch. In solchen Augenblicken erscheint Bruckner im Gestus unglaublich modern. Exzellent das martialische Scherzo: Currentzis setzte nicht aufs Lärmen, sondern erzeugte Schrecken durch das Herausarbeiten der gegenläufig zu den Taktschwerpunkten liegenden Akzente. Bezaubernd dazu der Kontrast des Trios, zwar gefährlich rasch, aber leicht und duftig genommen, elastisch und frei phrasiert, beinahe auch etwas zuckrig, wie eine Begleitmusik zu Max Reinhardts „Sommernachtstraum“-Film von 1935…
Wo andere Dirigenten aus solchen Assoziationsfeldern handfeste und dann peinliche Klangmanifestationen schaffen, bleibt bei Currentzis alles Andeutung, Möglichkeit, Ahnung. Entsprechend streng-strukturell nimmt er die Eröffnung des dritten Satz, das Unisono der ersten Violinen, setzt nicht auf sattes Vibrato der G-Saiten, sondern betont die Dissonanz der aufstrebenden None h-c, die bei ihm paradoxerweise im Oktavfall ais-ais nachklingt. Sentiment, aber keine Sentimentalitäten bestimmen diesen Weltabschiedssatz, und so genau Currentzis den berühmten Sechstonakkord aushört, die knirschende Bestürzung sich einstellt, sie ist nicht das Ergebnis durch Überdehnung der Viertelnote – wie oft borgen sich Dirigenten die nachfolgende Fermate über der Pause für den Akkord selbst.
Wie das auskomponierte Schweigen hallte Bruckner in Ligeti nach und Currentzis verlängerte das Verlöschen in eine lang gehaltene Stille, die völlig unprätentiös Teil der Musik war, keine Dirigentenmasche. Kleinlich wäre, nach diesem ersten Abend einige Intonationsschatten bei den Bläsern zu monieren, im Gegenteil, dieses junge SWR Symphonieorchester schien sich erstmals wirklich als Ensemble gefunden zu haben und honorierte die offenkundig harte Probenarbeit des designierten Chefs mit höchster Aufmerksamkeit und besonders in den Streichern mit Brillanz. Wenn sich das Niveau der Zusammenarbeit im Herbst, wenn Teodor Currentzis sein Amt antritt, so fortsetzt, ist mit Außergewöhnlichem zu rechnen.
Live-Videostream am 19. Januar 2018 ab 20 Uhr: https://www.swr.de/swr-classic/symphonieorchester/-/id=17055418/1bbadl/index.html