Hauptrubrik
Banner Full-Size

Viola und die Wüste

Untertitel
„Happy New Ears“ in Frankfurt
Publikationsdatum
Body

Die vor einigen Jahren vom Frankfurter Opernhaus und dem in Frankfurt beheimateten Ensemble Modern ins Leben gerufene Konzertreihe „Happy New Ears“ war von Anfang an ein Erfolg für die Vermittlung zeitgenössischer Musik an ein möglichst breit gefächertes Publikum. Dafür waren verschiedene glückliche Umstände verantwortlich: Als Sylvain Cambreling 1993 die Leitung der Oper übernahm, war mit ihm ein ausgesprochener Förderer der Moderne an den Main gekommen, dem die Werkstattkonzerte mit erläuternden Gesprächen über die Werke vieler maßgeblicher komponierender Zeitgenossen aus Europa und Übersee als pädagogisch ambitionierter Dirigent wie auf den Leib geschneidert waren.

Gleichzeitig mit Cambrelings häufiger musikalischer Leitung desEnsemble Moderns konnte ein zunächst nur an Cambrelings Oper interessiertes Publikum mit zeitgenössischer Musik zusammengebracht werden. Als Cambreling die Frankfurter Oper verließ, waren vielen Operngängern bereits „Happy New Ears“ gewachsen, und sie blieben der Reihe treu. Mit dem Wechsel des Veranstaltungsortes vom Opernhaus zum Theater am Turm wurden wiederum neue Publikumsschichten, eher an experimentellem Theater interessierte, erschlossen. Mit dem in Frankfurt Komposition lehrenden und als Dirigent Neuer Musik nicht minder bedeutenden Hans Zender wurde ein weiterer Eckpfeiler heutigen Musikdenkens für die Werkstattkonzerte gewonnen, dessen guter Name ebenfalls Zugkraft bewies und der mit dem Titel „Happy New Ears“ seines Buches über das heutige Komponieren der Reihe schließlich den Namen gab. Daß das Ensemble Modern in Frankfurt sein Publikum hat, braucht nicht mehr erwähnt werden. Als Cambreling aber im Streit mit der Stadt wegen fehlender finanzieller Mittel für das Opernhaus von Frankfurt fortging, war auch die Zukunft der „Happy New Ears“ gefährdet. Mit dem weiterhin tätigen Hans Zender mußten sie zunächst auf einem Bein stehen bleiben. Doch bevor die Reihe nach Flamingoart einschlief, entschlossen sich die Verantwortlichen in der Oper und im Ensemble letzten Sommer nach Konzerten mit Werken von Heiner Goebbels und dem abschließenden Nono-Abend mit dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung zu einer Denk- und natürlich auch Sparpause. Die ist jetzt vorbei. An fünf lose über das Jahr verteilten Terminen wird die Musik der ästhetisch und kompositionstechnisch sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten Morton Feldman, Iannis Xenakis, Wolfgang Rihm und John Adams erläutert und gespielt werden. Die musikalische Leitung wird ab dem zweiten Konzert von jeweils Hans Zender, Heinz Holliger und den zwei Dirigentinnen Dominique My aus Paria und Sian Edwards aus London übernommen. Zum Auftakt der wieder im Bockenheimer Depot stattfindenden Reihe war kein Dirigent notwendig, denn es wurde nur kurz live musiziert. Mit dem international beachteten Videokünstler Bill Viola war der ästhetische Rahmen dieser ersten Veranstaltung programmatisch sehr weit aufgespannt worden. In Frankfurt sprang man jetzt, nach kulturpolitisch ereignisloseren Jahren, auf das internationale Ausstellungskarussell wieder auf. Nach den Stationen Los Angeles, New York und Amsterdam konnte man sich am Main mit dem vom Whitney Museum of American Art organisierten Überblick über Violas Werk der letzten 25 Jahre, zu deren Erörterung der Künstler ohnehin in der Stadt weilte, ganz metropolenhaft und künstlerisch scheinbar auf der Höhe der Zeit fühlen. Dem Frankfurter Publikum ist der multimediale Ansatz des zur Zeit am Getty Research Institute in Los Angeles arbeitenden, gebürtigen New Yorkers durch seine in einen quadratischen, abgedunkelten Raum gepflanzte Bild-Geräusch-Installation „The stopping mind“ bereits seit der Eröffnung des Museums für Moderne Kunst vor acht Jahren vertraut. Violas Bildsprache und ästhetisches Denken ist seit seiner gemeinsamen Zeit mit dem Ausnahme-Pianisten und Cage-Weggefährten David Tudor und der Begegnung mit der kompromißlos zukunftsweisenden Musik von Edgard Varèse klanglich geprägt. Mit Klang meint Viola freilich einen Zustand vor der kompositorischen Gestaltung, der mit der englischen Vokabel „Sound“ allgemeiner ausgedrückt werden kann. Viola meint jedoch mehr als nur Geräusche. Im Denken des 48jährigen ist die ganz Welt zwar nicht pauschal ein Klangereignis, dennoch vermutet der großgewachsene und an diesem sehr langen Vortragsabend verdächtig gemütlich mit einer großen Thermoskanne Tee ausgerüstete Amerikaner in jedem Gegenstand zumindest doch eine Frequenz, die es hörbar zu machen gilt. Ausgangspunkt dafür ist ihm der menschliche Körper, was eine Demonstration mit medizinisch-akustischem Gerät verdeutlichte. Über diverse Mikrophone und Kontaktstellen am Körper des Bühnenmanagers des Ensemble Modern wurde neben dem rhythmischen Herzschlag auch der klingende Blutkreislauf, die Muskelbewegung und die Atembewegung übernatürlich laut hörbar gemacht. Elektronik wird hier als Verlängerung der menschlichen Wahrnehmung eingesetzt. In der Videoprojektion „Anthem“ dient der durchdringende Schrei eines elfjährigen Mädchens als filmisch-klanglicher Ausgangs- und Gliederungspunkt des phantastisch-realen Bildgeschehens. Im harten Kontrast der Schnittfolge von archaischen Naturaufnahmen und hoffnungslosen Bildern von verrottenden Industrieanlagen bis hin zum Abfilmen einer Herzoperation hält Viola der menschlichen Existenz kommentarlos den Spiegel vor und wirft damit umso mehr Fragen über die materiellen und sozialen Bedingungen heutigen Daseins auf. Ein weiteres wirksames Mittel der klanglich-bildlichen Gestaltung seiner Videos ist das Spiel mit der Bandgeschwindigkeit. Durch eine Verlangsamung der Laufzeiten jeweils um die Hälfte filtert Viola skalenartige Tonhöhen aus dem ursprünglich aufgenommenen Schrei heraus und verfügt so über viele Tonlagen von tief grollend bis zur Stimmhöhe des Mädchens. Badende in Südkalifornien, die Architektur der Schwerindustrie und nicht zuletzt der Schrei des Mädchens selbst werden zu einer zwar nicht erzählenden, jedoch ritualisierten Handlung aneinandergefügt. Freilich geht es Viola dabei um die elementare Erfahrung von Angst durch die Trennung von Geist und Körper. Der Klang im Ding ist ihm dabei so etwas wie der Reflex eines Rests Seele im noch unbelebtesten Gegenstand. Die um das Thema innere und äußere Wüste kreisenden Bilder zur aufreibenden Musik von Varèses „Déserts“ waren in Frankfurt bereits vor vier Jahren in einem Konzert mit dem Ensemble Modern zu sehen. Bei der neuerlichen Betrachtung wurden die scharf wahrnehmbaren Konturen der in Zeitlupe und simultan zum Rhythmus- und Klangfarbenwechsel der Musik fallenden Gegenstände betont. Den Titel „Déserts“ verstand Viola in seiner bildlichen Umsetzung der Musik wörtlich. War für Varèse die Wüste eine Analogie auf einen geschichtslosen Ort, in dem er seine mit vorgefertigten Tonbändern elektronisch durchsetzte Musik Ende der vierziger Jahre verankern wollte, so benutzt Viola nun die Wüste als naturhafte Außenseite einer entmenschlichten Innenwelt, in der die Gegenstände haltlos niederstürzen. Anstelle des Geräuschs von aufschlagendem Porzellan oder eines ins Wasser fallenden Glases ersetzt hier Varèses objekthafte und klangfarblich stark unterteilte Musik den Originalklang. Die zwischen Bild und Musik entstehende Distanz in der Wahrnehmung, weil das vertraute Geräusch zum Bild fehlt, wird von Violas geschickter Schnittechnik in eine rein klangliche Erzählweise umgewandelt. Bei Varèses „Octandre“ für acht Instrumente, ohne Bebilderung vom Ensemble Modern gespielt, vermißte man schließlich den visuellen Eindruck: Ein Zeichen für Varèses bereits Anfang der zwanziger Jahre filmschnittartiges Komponieren. Nach Violas Bildästhetik wirkten besonders die blockhaften Bläserklänge einmal mehr losgelöst von jeder Kausalität.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!