Kein langsames Werden, keine behutsame Vorbereitung. Die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers Oper „Euryanthe“ startet von Null auf Hundert. Das Orchester legt gleich im Fortissimo los mit einer markanten Punktierung, dem die Streicher energiegeladene Triolenketten folgen lassen.
Hört man das Dresdner Festspielorchester unter der Leitung von Ivor Bolton beim Eröffnungskonzert der 42. Dresdner Festspiele mit diesem Werk, so erscheint die Ouvertüre noch ein wenig schwungvoller, lichter und transparenter als normalerweise. Das liegt zum einen an der ausgezeichneten Akustik des 2017 neu eröffneten Konzertsaals im Dresdner Kulturpalast. Zum anderen trägt das auf Originalinstrumenten spielende Festspielorchester zum transparenten Klangbild bei. Die gedämpften Streicher im Largo klingen fahl und geheimnisvoll. Bei den Schubertliedern (Instrumentation: Stuchasch Dyma) sind die Farbwechsel noch eindrucksvoller. Gerade die gestopften Hörner in „Die Stadt“ oder das heisere Tremolo der Streicher ganz nah am Steg in „Am Meer“ schaffen besondere Klangatmosphären. Leider gerät die Balance immer wieder in Schieflage. René Pape ist in der tiefen Lage kaum mehr zu hören. Hier hätte Dirigent Ivor Bolton das Orchester mehr zurückfahren müssen. Dass der Dresdner Bassist die Lieder eher als Opernarien interpretiert und mit großem Vibrato und viel Pathos beschwert, trübt ebenfalls den Gesamteindruck. Robert Schumanns Frühlingssinfonie nach der Pause ist dann wieder festspielreif. Das von Konzertmeister Alexander Janiczek angeführte Festspielorchester entwickelt eine sprechende Interpretation, die immer beweglich bleibt und gerade die in dem Werk wohnende Aufbruchsstimmung ganz hörbar macht. Intendant Jan Vogler hat das Dresdner Festspielorchester 2012 gegründet, um der Musik des 19. Jahrhunderts auf Originalinstrumenten nachzuspüren. Für die speziellen französischen „Bassons“, die für Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“ benötigt werden, wurden Fagotte aus dieser Zeit restauriert, wie aus dem Festivalmagazin zu erfahren ist.
In diesem Jahr stehen die im Jahr 1978 durch einen Beschluss des SED-Zentralkomitees gegründeten Festspiele unter dem Motto „Visionen“. Insgesamt 56 Veranstaltungen an 22 Spielstätten bieten eine große stilistische Bandbreite an – von Klassik bis Blues, von Tanz bis Jazz. Obwohl bei den ersten drei Konzerten doch einige Plätze leer bleiben, liegt die Auslastung bei guten 91 Prozent. Die Hälfte des 5,3 Millionen-Euro-Etats wird durch Ticketeinnahmen und Sponsoring selbst erwirtschaftet. Das enorme Wachstum in den letzten Jahren hat viel mit dem Intendanten Jan Vogler zu tun. „Ich habe mich darauf konzentriert, das Festival international bekannt zu machen, das künstlerische Niveau zu steigern und ebenso die Attraktivität und den wirtschaftlichen Erfolg. So haben sich die Karteneinnahmen seit 2009 bis heute von 410.000 Euro auf zirka zwei Millionen Euro gesteigert. Es gibt fast kein berühmtes Orchester auf der Welt, das noch nicht bei uns zu Gast war, ähnlich verhält es sich mit Solisten, Sängern, Tanz und immer mehr auch Jazz“, erklärt Vogler auf Nachfrage.
2019 sind hochkarätige Klangkörper wie das römische Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano und das Orchester des Mariinsky-Theaters Sankt Petersburg unter Valery Gergiev zu Gast. Auch das City of Birmingham Symphony Orchestra gehört unter seiner Chefdirigentin Mirga Grazinyte-Tyla zur internationalen Spitze. Im eröffnenden „Concert Românesc“ von György Ligeti glänzt das Orchester mit rhythmischer Präzision und herausragenden Soli. Robert Schumanns Klavierkonzert macht Kit Armstrong, der ganz kurzfristig für die Ersatzsolistin Patricia Kopatchinskaja (ursprünglich war Yuja Wang geplant) eingesprungen ist, zur echten Bekenntnismusik mit feinen Abstufungen. Nur die zweite Symphonie von Brahms leidet ein wenig unter der zu kleinteiligen, erhitzten Interpretation der Dirigentin.
Ein wirklich visionäres Projekt hat das Festival mit der Uraufführung des Cellokonzertes „Drei Kontinente“ zu bieten, das Nico Muhly (USA), Sven Helbig (Deutschland) und Zhou Long (China) komponierten – jeder einen Satz. Im lockeren Pressegespräch mit Jan Vogler am Vormittag erklären die drei Komponisten, dass sie sich musikalisch nicht abgesprochen hätten, so dass sich jeder mit seiner speziellen kulturellen Prägung frei entfalten konnte. Herausgekommen bei diesem Experiment, dem sich Solist Jan Vogler und das WDR Sinfonieorchester unter seinem designierten Chefdirigenten Cristian Macelaru mit Neugier und Kompetenz widmen, ist ein vielgestaltiges, stilistisch sehr unterschiedliches Werk, das den Zuhörer mitnimmt und das Violoncello auf ganz verschiedene Weise mit dem Orchester in Beziehung setzt. Nico Muhlys vibrierend-nervöser erster Satz „Cello Cycles“ lässt das Cello erst nach und nach in den Vordergrund treten und Virtuosität entfalten. Die „Aria“ des Dresdner Komponisten Sven Helbig setzt ganz auf den sonoren Ton Jan Voglers und auf klare, tonale Strukturen. Die melancholische Stimmung des neoromantisch klingenden Satzes erinnert an Edward Elgars Cellokonzert. Am Ende verdüstert sich die „Aria“ zu einem existentiellen Kampf, der aber doch hoffnungsvoll endet. Im Finale „Tipsy Poet“ hat Zhou Long traditionelle chinesische Melodien verarbeitet. Die Pizzicati im Solocello erinnern an eine Guqin, die siebensaitige chinesische Zitter. Der Satz lebt von schnellen Charakterwechseln und rhythmischen Zuspitzungen. Zwei Kadenzen, die Vogler klangschön auskostet, schenken für einige Momente Ruhe und Intimität. Das WDR Sinfonieorchester ist Partner auf Augenhöhe. Und zeigt mit einer packenden Interpretation von Beethovens 3. Symphonie „Eroica“, dass man auch im traditionellen Repertoire das Visionäre herausarbeiten kann.