München hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – initiiert vom großen Karl Amadeus Hartmann – seine unvergleichliche musica viva. Damals das Informationsdefizit der zwölf Jahre des tausendjährigen Reiches reparierend. Heute gehen der Blick und das Hören sensibilisierend in die große weite Welt hinaus – und von dort zurück, facettenreich navigiert von Winrich Hopp für den Bayerischen Rundfunk und seine Klangkörper samt Gastensembles und (an)reisender Interpreten. Diesmal ergab sich durch die Platzierung eine Art Minifestival.
Die von der Ernst von Siemens Musikstiftung – auch spiritus rector des Ernst von Siemens Musikpreises – initiierte Konzertreihe in Zusammenarbeit mit der musica viva und LUCERNE FESTIVAL ging diesmal in der Philharmonie im Gasteig mit 2400 Sitzplätzen in Szene – unter dem vielschichtig zum Nach-und-Voraus-Denken anregenden Titel räsonanz. Das London Symphony Orchestra gastierte zum ersten Mal unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle an der Isar. Klar ging es dabei um angloamerikanische Musik – mit partiellen München-Bezügen: „Dispelling The Fears“ für zwei Trompeten und Orchester des Komponisten Mark-Anthony Turnage, der in München durch Hans Werner Henzes Musiktheater-Biennale bekannt wurde; das von Albrecht Dürers „Melancolia I“ inspirierte Orchesterstück „The Shadow Of Night“ von Sir Harrison Birtwistle sowie die großformatige und dreisätzige, in San Francisco uraufgeführte, „Harmonielehre“ von John Adams.
Brillanter und virtuoser Klang des LSO
Im Zeitalter musikästhetischer Orientierungslosigkeit polemisierte zwischen den Stühlen und oberhalb der Noten manch scharfzüngiger Ideologe über die Lahmigkeit dessen was britische Musik insgesamt so auszeichnen würde, jenseits von Purcell und Händel. Und das vermochte selbst der ungemein temperamentvoll und inspirierend zur Sache gehende Simon Rattle nicht voll zu widerlegen. Zwar begeisterte der brillante und virtuose Klang des Orchesters, der erfolgreich gegen das schlechte Akustik-Image des Saals anspielte. Transparenz und gradliniger Sound überzeugten. Richtige Begeisterung machte sich breit nach John Adams. Dessen Werktitel „Harmonielehre“ den Hütern der reinen Lehre eher Leere im Kopf verursacht. Orchester und Dirigent fanden die Balance zwischen minimal-music-typischer Mechanik nebst US-amerikanischer Unterhaltungsgenialität und rissen zu Ovationen hin.
Diese räsonanz-Konzerte haben sich zwischenzeitlich fest etabliert in München und in Luzern. Eine sehr lange Lebenszeit sei ihnen gewünscht. Eine Offenheit und Zugewandtheit dem jeweils Gegenwärtigen gegenüber. Wie die musica viva das mehr oder weniger augen-und-ohrenfällig über die Zeiten praktiziert. Dem großen Peter Eötvös war das dritte Konzert der laufenden Serie gewidmet. Und da brachten Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Peter Eötvös erneut dessen immense Intellektualität gepaart mit der ja im Innersten von Empathie, von Emotion getragenen Haltung der folkloristischen, volkstümlichen Musik ins Bewusstsein zurück. „The Gliding Of The Eagle In The Skies“, inspiriert vom Klang des baskischen Tamburin, faszinierte in seiner schwebenden, assoziativen Charakteristik: Ich sah den Blick des Adlers, hoch am Himmel gleitend, bewegungslos, mit weit gespannten Schwingen, hörte das Rauschen der Flügel im Wind, spürte den endlosen Raum und das Gefühl vollkommener Freiheit schreibt Peter Eötvös. „Alle vittime senza nome“ (An die namenlosen Opfer) für Orchester wurde 2017 in der Mailänder Scala uraufgeführt, erinnert in einer Art Requiem an arabische und afrikanische Menschen, die in der Hoffnung in einer glücklicheren Welt zu landen, unwissend in überfüllte Boote gestiegen und noch vor der italienischen Küste im Meer versunken sind – wie der Komponist es beschreibt und im Herkulessaal der Münchner Residenz analytisch bewegend darstellte.
Erkenntnis und Aufklärung
Gewaltig dann der zweite Teil des Abends, der vom stotternden Propheten handelt, der nichts voraussagen kann, „Halleluja – Oratorium balbulum“, 2016 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Und seither dem Denken über Religion und Politik neue Dimensionen eröffnend. Musik zitierend in sehr knappen Sequenzen von Schumann, Händel, Bach, Beatles, Mussorgski, Schein, Monteverdi. Und der Narrator verhandelt nicht einzig und alleine nine eleven. In absurder Assoziationshaltung. Dem Grauen nahe. Das sich in der Flugzeugperspektive der Alltäglichkeit vor der Katastrophe von New York irreal darstellt – in den Worten von Péter Esterházy (Übersetzung György Buda). Matthias Brandt bringt seinen schwierigen Erzählertext ungemein präzise ins tosende Musikgeschehen ein, Iris Vermillion als Engel und Eric Stoklaßa der Prophet stehen ihm nicht nach. Der BR-Chor in Florian Helgaths Einstudierung und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem präzisen, schnörkelfreien Dirigat des Komponisten führen in einer phänomenalen Gemeinschaftsleistung Erkenntnis und Aufklärung zusammen. Ein Wunderwerk aus dem Zentrum dessen, was zeitgenössische Musik dieser Tage begreifbar machen kann.