„Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder …“, sangen Kinder der Detmolder Freiligrath-Grundschule aus dem bekannten Volkslied „Der Mond ist aufgegangen“ am Ende der Komposition „Dem Himmel entgegen“ von Jörg Peter Mittmann, die den zweiten Abend des diesjährigen Hörfestes Neue Musik im Hangar 21 abschloss.
Mit dieser erstmals gespielten Komposition für großes Ensemble und Projektchor traf Mittmann in zweifacher Weise mitten ins Herz des Themas „Mythos und Moderne“ des 4. Hörfestes der „Initiative Neue Musik in Ostwestfalen-Lippe“. Zum einen warf er in kompositorisch wohldurchdachter Form die Frage nach den Eckpunkten menschlicher Welterfassung auf, zum anderen – und vielleicht noch wichtiger – gelang ihm eine Form der Musikvermittlung, die vor allem den Beteiligten einen sicherlich sehr nachhaltig wirksamen Zugang zu einer Musik verschaffte, von der sie bisher gar nichts wussten oder die sie unbewusst (etwa als Filmmusik in Krimis) als ängstigend, unverständlich und also blöd wahrgenommen hatten.
„Die Kinder waren wie hypnotisiert“, erzählt die Grundschullehrerin Margarete Hentschel. „Das klang am Anfang wie Wetter“, sagt eine Schülerin aus dem Jugendchor des Grabbe-Gymnasiums (Ltg. Kirsten Fernandez) mit leuchtenden Augen. Ein anderer Schüler greift zur Partitur, um dem Reporter zu zeigen, dass „die Musik doch ganz klar war“. Gleich nach den Sommerferien hatten die Gruppen begonnen, etwa Gestalten der „Sprachverwirrung“ zu üben, eines der Motive, die Mittmann aus dem Mythos vom Turmbau zu Babel entleiht, den er ästhetisch in eine auch deshalb überzeugende Form bringt, weil er quasi die Schöpfung von Haydn umkehrend, seine Musik von einer nur diffus scheinenden Ordnung in eine große Frage hineinstürzen lässt.
Die Spannung von Mythos und Moderne durchzog das Festival, dessen Eröffnung mit dem „Ensemble Horizonte“ in der Detmolder Martin-Luther-Kirche gleich drei weitere Uraufführungen bot. Beschworen wurde da die Verschränkung von mythologischer Erzählung und rationaler Welterklärung, wie sie Theodor W. Adorno in seiner Dialektik der Aufklärung auf den Begriff brachte. Diese Spannung bestimmte in ganz unterschiedlicher Weise die Stücke von Jean-Luc Darbellay, Miro Dobrowolny, Benjamin Schweitzer und Valerio Sannicandro, der das Ensemble inspiriert leitete.
Wie Neue Musik über ihre innere Logik hinaus die Gefühle der Zuhörer spontan ansprechen kann, bewies die luzide Wiedergabe von Salvatore Sciarrinos „Lo spazio inverso“.
Auf die Musiker des „Ensemble Horizonte“ folgte am Samstag vor der imposanten Kulisse der alten Flugzeughalle Hangar 21 das „Artwork Ensemble“ mit einer ebenso authentischen und daher überzeugenden Interpretation von George Crumbs „Music for a summer evening“. Der allzu harmlose Titel steht für ein Werk voller Abgründe und Beschwörungen.
Welche Entwicklung war die wichtigste in der Musik des 20. Jahrhunderts: die Emanzipation der Dissonanz oder die des Rhythmus? Darauf gab der Schlagwerker Johannes Fischer am Sonntagabend eine eindeutige Antwort. Und brachte einen weiteren Aspekt ins Spiel: Zur Emanzipation von Dissonanz (Arnold Schönberg) und Rhythmus (Igor Strawinsky) kommt die Emanzipation des Geräusches (John Cage), das heißt, das bloße Geräusch, also nicht mehr der geformte Klang, wird zur Musik. Mit diesem Schritt vollzieht die Musik etwas, was in der Bildenden Kunst etwa die Konzeptkunst repräsentiert. In der Bildenden Kunst löste die Idee den Künstler zudem von jeder Form handwerklicher Virtuosität. Die blieb in der Musik aber immer erhalten.
Fischer konnte seine Zuhörer deshalb davon überzeugen, dass man auf einem Kaktus, auf irgendwelchen Nussschalen oder mit Reisigbüscheln improvisieren kann, weil er über eine atemberaubend virtuose Spieltechnik verfügt. John Cage hat sich sein „Child of Tree“ einfallen lassen, damit der Musiker keine eingeübten Schlagfolgen als Improvisation vortäuscht. Es bleibt fraglich, ob dieses Ziel überhaupt erreichbar ist. Fischers fulminantem Erfolg tat diese Frage indes keinen Abbruch. Er begeisterte mit Klangphantasie: In einer Eigenkomposition entlockte er der kleinen Trommel richtige Töne, indem er etwa aus kürzester Distanz auf das Fell pustete, oder es mit einem Rasierapparat in klingende Schwingungen versetzte. Das war kein Performanceblödsinn, sondern richtige Musik.
Die meisten Besucher kamen bereits am Nachmittag in den Hangar, um Caroline Lusken und Gaëtan Chaily zu Musik von Maurice Ravel und André Jolivet tanzen zu sehen. In Jolivets „Chant de Linos“ verbanden sich Elemente des Modern Dance mit dem mythischen Ritual einer in Asche vollzogenen Totenklage.
Musiker des Landestheaters hatten schon am Vormittag zu einer hochinteressanten Matinee eingeladen, in der Dorothea Geipel mit feinsinnigen Rezitationen den Zuhörern im Theaterfoyer einen sehr berührenden Zugang zu Neuer Musik ermöglichte. Die moderne Lautmalerei der Annette Schlünz in ihrer Komposition „The snow has no voice“ war hier neben „Voice“ für Flöte solo von Toru Takemitsu die herausragende Entdeckung.
Ein Novum des diesjährigen Hörfests: Mit etwas zeitlichem Abstand werden die Uraufführungsstücke des Eröffnungskonzerts im Ambiente des Klos-ters Marienmünster in einem WDR-Konzert vom Ensemble Horizonte erneut vorgestellt – ein Epilog, der Gelegenheit bietet, Eindrücke zu festigen oder zu revidieren.