Mauricio Kagels szenische Komposition „Staatstheater“, 1967 als Auftragswerk der Hamburgischen Staatoper entstanden und vom Komponisten selbst realisiert, wurde nun von der freien Gruppe Opera Lab mit zwei altgedienten Kämpen der Deutschen Oper Berlin, Catherine Gayer und Klaus Lang in den Hauptpartien, neu zur Diskussion gestellt. Ein mit anderthalb Stunden immer noch teils kurzweiliger, Längen in Kauf nehmender Theaterabend jenseits der Provokation.
Kagels für freie Aktionen notierte Partitur besteht aus den neun Teilen „Repertoire. Szenisches Konzertstück“, „Einspielungen. Musik für Lautsprecher“, „Ensemble für 16 Stimmen“, „Debüt für 60 Stimmen“, „Saison. Sing-Spiel in 65 Bildern“, „Spielplan. Instrumentalmusik in Aktion“, „Kontra –> Danse“, „Freifahrt. Gleitende Kammermusik“ und „Parkett. Konzertante Massenszenen“. Mit intendiert komischer und absurder Wirkung, unter Einbeziehung von Abnormalem und Defektem, verstand sie sich als eine Kritik am eingefahrenen Betrieb eines Opernhauses. Als solche schien die Spielvorlage zeitverhaftet, musste in ihrer Verfremdung an Reibung und damit an Reiz verlieren.
Die Neuinszenierung bemüht sich, die Spielvorlage mit reduziertem Aufwand einzulösen. Was sich bei „Kontra –>Danse“ durch eine von „Nicht-Tänzern“ ausgeführte Ballettaktionen gegen den Interpretationsperfektionismus gerichtet hatte, läuft angesichts heutiger Tanztheaterbegeisterung ins Leere, reibt sich höchstens noch am Ort der Darbietung, dem einst dem Gesellschaftstanz dienenden „Ballhaus“.
Die hier allesamt Kagel getreu vertretenen Darstellungsbereiche von Oper, vokaler und instrumentaler Musik, Szene und Tanz werden im Ballhaus zu einem Panoptikum. Zunächst sitzt das Publikum auf Bänken und betrachtet auf der Guckkastenbühne ein alt gewordenes Paar – Catherine Gayer und Klaus Lang –, welches sich durch klangliche Störaktionen gegenseitig zu ärgern und zu erschrecken versucht um dem Alltag zu entfliehen. Eine alte Opernsängerin sitzt neben einem leerlaufenden Grammophon und kratzt mit ihrer Haarnadel auf einer LP herum.
Wohl ebenfalls als Referenz an den Aufführungsort hat der Regisseur das Medium Ball vielfältig eingeführt, als Pingpongbälle in diverser Größe, bis hin zu quergeteilten Melonen, als Haarnadelabschluss – oder als Mozartkugel, die durch Schläuche laufend entsprechende Geräusche erzielt. In die kleine Wohnstube brechen die Arme und Beine anderer Mitspieler herein, entstehen falsche klangliche Zuordnungen zu den vorgezeigten Instrumenten.
Dann legen weiß gewandete Pfleger die Alte auf eine Bahre, der Raum fährt auseinander, und die weißen Darsteller geleiten die einzelnen Besucher im Lichte künstlicher Fackeln auf die große Spielfläche. In diversen zu Schaubuden aufgewerteten Schränken wird das Publikum zum Mitspielen aktiviert, zu einem Wettlauf aufgezogener Hühnchen, zum Anschalten einer Vielfalt von Transistorradios, zur Tonerzeugung auf Wasserflaschen und mit Strohhalm in Erdbeerbowlegläsern, zu elektroakustisch verstärktem Kratzen auf den Metallstäben und Spiralen eines Bettgestells. Auf einem Friseurstuhl können sich die Besucherinnen mit klingenden Kämmen ihre Haare frisieren lassen, in einem anderen Schrank Wecker ticken hören oder mit Topfdeckeln schlagen.
Mit einem lauten Topfdeckellauf der Darsteller_innen durch den Vorhang erfolgt die Umdefinition des Theaterraums: der bisherige Zuschauerraum ist nun die Bühne, auf der Spruchbänder gehalten und zerrissen werden. Ein blonder Held mit Hammer auf einem Gummiamboss liefert eine Siegfried-Parodie, ebenfalls Lacher produzieren eine Dame mit Schwanenkopfmütze hinter einem übergroßen Pappflügel und eine Walküre mit nackter Gummibrust, die auf einem Berg von Babypuppen und zu allem Überfluss mit einer Fahne der Bayreuther Festspiele Töne schmettert. Solche Wagner-Parodien laufen knapp 50 Jahre nach der Entstehung ins Leere.
Aber die Macher von Opera Lab halten sich großenteils an die Vorlage als „Modell“, wie Kagel sie verstanden hatte. Die „Freifahrt“ der gleitenden Kammermusik erfolgt auf geschobenen Gehhilfen. Der Trommelmann, in der Uraufführung von Elmar Gehlen dargestellt, ist hier ein beliebig aus dem Publikum ausgewählter Besucher, der mit Trommeln an Kopf, Bauch und Gliedmassen ausstaffiert wird.
Dann, wohl auch noch der „Repertoire“-Idee Kagels folgend, wird der Alte mit Silbergewand, einem silbernen Falstaff-Geweih und einem runden Spiegel ausgestattet. Die Alte, aus dem bunten Sarg mit Lautsprechern tönend, kommt wieder zum Leben, während sich das Ensemble als roter Wurm unter dem Stoff des losgerissenen Vorhangs wie ein chinesischer Drache melismatisch durch den Raum bewegt.
Die abschließende „Konzertante Massenszene“ sämtlicher Akteure, die zu jeder gymnastischen Bewegung eine kurze gesungene Akkordfolge produzieren, wird in der Inszenierung von Michael Höppner zu einer kollektiven sportlichen Betätigung, gemahnend an Walter Ulbrichs Freiübungen, gemeinsam mit der DDR-Bevölkerung als politisches Programm auf dem Alexanderplatz: im Ballhaus Ost sind auch die Besucher angehalten, wechselweise ihre Beine auszustrecken, die Oberkörper zu beugen oder den Rumpf zu schwenken. Die Alte applaudiert dazu von der Bühne aus und initiiert so den allgemeinen freundlichen Premierenapplaus.
Zwar reicht die Innovation in der künstlerischen Fassung von Evan Gardner unter der (unsichtbaren) musikalischen Leitung von Antoine Daurat in der Ausstattung von Martin Miotk, Cristina Lelli und Günter H. W. Lemke nicht an die vorangegangene Produktion dieses Ensembles, „Gunfighter Nation“ (vergleiche nmz online), heran, doch bietet sie lebendigen theatergeschichtlichen Anschauungsunterricht.
Wie meinte doch der Komponist im Vorwort seiner Partitur: „Jede Realisation des Werkes wird […] unvollständig sein und zwar auf eine Weise, die die beteiligten Sänger und Musiker vielleicht nicht befriedigen wird.“ Auch das Publikum nicht, so könnte man ergänzen, und vielleicht auch den Komponisten nicht, der mit seinem Theateropus doch den Theaterbetrieb verunsichern und das Publikum schockieren wollte.
- Weitere Aufführungen: 3., 5., 6. und 7. Mai 2017.