„Mythos Berlin“ hieß eine Ausstellung auf dem Ruinengelände des Anhalter Bahnhofs, deren Eröffnungsfeier den Auftakt zur von nun an regelmäßig wiederkehrenden Randale des ersten Mai in Kreuzberg gab. Das war 1987, zu Vorwendezeiten, als noch ein opulentes Buffet genügte, um den Zorn nicht nur der Underdogs zu erregen.
Beim Festival „Mythos Berlin“, mit dem das Konzerthaus am Gendarmenmarkt seinen diesjährigen Länderschwerpunkt der deutschen Hauptstadt widmete, bestand eine solche Gefahr nicht. Vielmehr gab sich ein zahlreiches, bestens gelauntes Publikum wild entschlossen, sich zu amüsieren, zeigte sich als fantasievoll kostümierte „Bohème Sauvage“ dem Charleston, Foxtrot und Stepp bestens gewachsen, lauschte den „King’s Singers“ mit Songs der „Comedian Harmonists“, applaudierte im „Swingerclub“ dem fulminanten „Capital Dance Orchestra“, das die Hits von damals mit rappenden Handpuppen ins Heute katapultierte, während die in den schummrig beleuchteten Großen Saal verlegte „Yellow Lounge“ mit Pjotr BeczaĆa, Andreas Ottensamer, Alice Sara Ott und vielen anderen populäre Klassik und Crossover vom Feinsten bot. Bis zum federbewehrten Kopfputz der Abendschließerinnen stand das ganze Haus im Glitzerflair der „Roaring Twenties“, mutierte vom ehrwürdigen Musen- zum brausenden Vergnügungs-tempel. Noch nie, kam es aus dem Publikum, habe man klassische Musik so ungezwungen, so leicht und locker wahrnehmen können – und das wohlgemerkt ohne den Qualitätsverlust, mit dem solche zumeist marktstrategisch motivierten Öffnungsversuche häufig einhergehen.
Dass die Besucher in dichten Trauben an den zahlreichen kleinen Bars hingen, der „Sprit“ quasi den „Spirit“ jener Zeit belebte, schien fast zum Konzept zu gehören. Der Opernsketch „Triple-Sec“ jedenfalls gehört nach Aussage seines Komponisten Marc Blitzstein zu jenen „verrückt-modernen Ideen, in denen die Regieanweisungen vorsehen, dass das Publikum selbst betrunken sein muss.“ Und so begrüßt. Conférencière Katharina von Bülow die Zuschauer mit einem herzhaften „Hello suckers!“ Ein dramaturgischer Kunstgriff: Denn in der knapp viertelstündigen Eifersuchtsfarce wird nach anfänglich kargen melodischen Linien der Protagonisten nicht nur doppelt und dreifach gesehen, sondern auch gehört. Blitzstein, der nach kurzer Lehrzeit bei Arnold Schönberg in Berlin bei Nadia Boulanger in Paris weiterstudierte, wollte sich 1928 mit dieser schon durch ihre Kürze jegliches Opernpathos brüskierenden Farce von den Werten und Traditionen des „blasierten Bürgertums“ – dem er selbst entstammte – befreien; ohne dieses Stück wäre er nach eigener Aussage „ein smarter Klugscheißer“ geblieben. Sein sozialpolitisches Engagement führte ihn zur Kommunistischen Partei, was ihm in der McCarthy-Ära einige Repressalien einbrachte; künstlerisch gipfelte es im Arbeiter-Musical „The Cradle Will Rock“, das 1937 kein Geringerer als Orson Welles inszenierte. Trotz Beschwerden von konservativer Seite war es äußerst erfolgreich.
Auch „Triple-Sec“ wurde als Teil von Revuen oder auf kleineren Bühnen immer wieder gespielt – dass das Werk eines kommunistischen, schwulen und „neutönerischen“ Juden in Deutschland keine Chance hatte, versteht sich von selbst. Dramaturg Arno Lücker sorgte jetzt nach langen von der Kurt-Weill-Foundation unterstützten Recherchen für die Europäische Erstaufführung; in Kooperation mit der Komischen Oper Berlin legt Tobias Ribitzki eine temporeiche, charmant-verrückte Inszenierung hin. Evan Christ treibt das Modern Art Ensemble zur punktgenauen Schärfe an, die Blitzsteins bissige, teils von Strawinsky und Hindemith inspirierte, teils an Kurt Weills Verwendung populärer Idiome orientierte Partitur benötigt. Ihr eigener Ton liegt in einer radikalen Zuspitzung dieser Elemente, der diebischen Freude, mit der ein „falscher“ Ton ein vorgeblich harmonisches Gebäude zum Einsturz bringen kann. Auch auf der Bühne (Rainer Bösel/Katrin Kath) gelangen Scheinheiligkeit und doppelte Moral zum Einsturz: Ein stimmgewaltiges und spielfreudiges Sängerensemble – teils aus dem Nachwuchsstudio der Komischen Oper – persifliert das Gehabe der feinen Leute nebst Dienerschaft und entfacht den ganzen Wahnsinn der sich verdoppelnden und verdreifachenden Nebenbuhlerinnen, ein gelenktes Chaos voll Lachtränen treibender Pointen. Dies alles mit steigender Promillezahl nach dem Konsum etlicher Triple-Secs – der Curaçao-Likör wurde auch an den Bars im Konzerthaus ausgeschenkt. Die Kombination mit George Gershwins „Blue Monday“ erwies sich als wahrer Glücksgriff, handelt es sich doch um die hierzulande ebenfalls unbekannte „erste Jazzoper überhaupt“, deren melodischer Zuschnitt – viel weiter geschwungen als beim lakonischen Blitzstein – schon auf „Porgy and Bess“ hinweist. „Mehr Blitzstein!“ kann man zu dieser gelungenen Aufführung jedenfalls auch ganz nüchtern nur sagen.
Doch nicht nur Aufbruchstimmung, Luxusgefühl und Leichtlebigkeit – durchaus in satirischen Facetten – der Goldenen Zwanziger wollte das Fes-tival vermitteln. Auch die Kehrseite der Medaille sollte beleuchtet werden: Not und Elend derer, „die man nicht im Dunkeln sieht.“ Mit einer scharf geschnittenen Orchestersuite aus dem Film „Kuhle Wampe“ von Hanns Eisler, einmal mehr die unterschätzten Qualitäten seiner „gestischen Musik“ bezeugend, trug das Konzerthausorchester unter Markus Stenz dem Rechnung. Heinz Tiessens „Vorspiel zu einem Revolutionsdrama“ war da viel einfacher gestrickt und konnte doch mit gigantischen, grell instrumentierten Steigerungen hin zum Kulminationspunkt „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ beeindrucken. Schön, dass dieses Eröffnungskonzert auch Informatives zum Zeitgeschehen einblendete, zum Uraufführungsskandal des „Wozzeck“ etwa oder zum ungeheuren Aufstieg und tiefen Fall Franz Schrekers als Spiegelbild der Vernichtung des Kulturlebens durch die Nazis weit vor 1933 – seine Walt-Whitman-Gesänge „Vom ewigen Leben“ versah die Sopranistin Annette Dasch mit jugendstilhaft-filigraner Emphase.
Es ehrte das Festival, nicht nur einem vergangenen Ideal huldigen, sondern es auch in Bezug zu heutiger Realität setzen zu wollen. An Christian Jost erging der Auftrag, eine musikalische Hommage an das aktuelle Berlin zu liefern, wie sie Walter Ruttmanns Film „Berlin – Sinfonie der Großstadt“ zu Edmund Meisels Musik so eindrucksvoll gelang. (Er war diesmal zur höchst kreativen Orgelimprovisation von Thierry Escaich zu erleben.) Doch die Uraufführung der „BerlinSymphonie“, ein „schillerndes Nachtbild der Stadt, die niemals schläft“, geriet zur heftigen Enttäuschung. Dunkelheit, Nebel, Dunst hob sich auch nicht von den Klängen des riesig besetzten, von Iván Fischer brillant koordinierten Konzerthausorchesters, ein ewig gleiches, um Mollterzen kreisendes Tonmaterial durch die Instrumentengruppen schickend – eine zu einer verquasten Monumentalität aufgeblasene minimal music, aus der sich lediglich ein Saxophon-Solo einmal prägnant heraushebt. Vielleicht ist das (Nacht-)Leben gewisser Schichten der Hauptstadt ja tatsächlich so ambitioniert-öde, arm, aber nicht sexy.
Wieviel mehr hat uns Kurt Weills „Silbersee“, Jost in diesem Konzert gegenübergestellt, auch heute noch zu sagen, selbst in seinen irrealen, märchenhaften Sequenzen – der Pfad, der auf dem unverhofft zugefrorenen Silbersee entsteht, mündet geradezu in Weills/Werfels aus dem Elend jeglicher Judenverfolgung herausführenden „Weg der Verheißung!“ Mit nonchalanter Ironie, deren Kern menschliche Sehnsüchte sind (Texteinrichtung von Georg Kaisers Libretto durch Ulrich Lenz) führte Fischer zwischen den einzelnen Nummern durch die Geschichte von Severin, dem der Diebstahl einer Ananas zum Verhängnis wird und der im Polizisten Olim plötzlich einen Verbündeten findet; genaue Charakterbilder lieferten Dominik Wortig, Max Hopp und vor allem Katharina Ruckgaber als „arme Verwandte“ Fennimore sowie Michael Pflumm als herrlich überdrehter Lotterieagent, der die Segnungen von „Zins und Zinseszins“ verheißt. Ein großes, auch musikalisch erhellendes Vergnügen in einem Abschlusskonzert, das vielleicht nicht durch die Werke selbst den erwünschten „Dialog über die Zeiten hinweg“ herstellen konnte, aber ihn immerhin im Zuhörer entstehen ließ.
Das Publikum „zehn Tage wach“ zu halten, wie der Prospekt verhieß, ist jedenfalls bestens gelungen.