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Einer „Lachenmann-losen Welt“ die Welt des Helmut Lachenmann nahebringen. Foto: Susanne Döring
Einer „Lachenmann-losen Welt“ die Welt des Helmut Lachenmann nahebringen. Foto: Susanne Döring
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Vom Poltern einer Flasche und der Freiheit der Kunst

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Zur Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt
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In vier Tagen maß die Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt die Anwesenheit der Welt in der Musik aus. Gibt es in der Welthaltigkeit der Musik einen Unterschied zwischen den Generationen? Wie verhalten sich Welt, das Nachdenken über die Welt und die Verarbeitung der Welt in der Musik zueinander? Ein Telefon erklingt. Erst leise, dann immer penetranter. Auf der Flucht reißt die Besitzerin des Handys eine Flasche polternd um. Das ist keine Musik. Das ist störend, das ist peinlich. Denn wir befinden uns mitten im Vortrag des Musikwissenschaftlers Michael Rebhahn, der unter dem Titel „(In der) Welt komponieren. Gedanken zu einer gegenwärtigen Musik“ einen Blick auf Tendenzen unter jüngeren Komponisten wirft.

Gerade war Musik von Maximilian Marcoll (geb. 1981) zu hören, der sich während der Komposition von Baustellenlärm außerhalb seines Raumes – nein, nicht gestört –, sondern angeregt fühlte und diesen Lärm mit seiner Komposition verwob. Und so erkennt auch ein Teil des Publikums in Rebhahns Vortrag die nicht intendierte Ironie der Situation, lacht, und befindet: „Das passt!“ Wir werden der polternden Flasche wiederbegegnen …

Tatsächlich sind in dieser Szene einige Punkte vorhanden, die auf der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) in Darmstadt unter dem Thema „Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in neuer Musik“ intensiv diskutiert wurden. Wie dringt die Welt in die Musik, in die Kunst ein? Von vielen Seiten wurde diese Fragestellung in unterschiedlichen Formaten diskutiert. Für die historische Einordnung sorgte der Moderator der Tagung und Vorsitzende des INMM, Jörn Peter Hiekel, der auf die Situation in den fünfziger und sechziger Jahren einging, als es verpönt war, einen Weltbezug in der Musik zu offensichtlich zu proklamieren. So gelten die „Structures“ (1952, 1961) von Pierre Boulez als direkte Fortsetzung einer „absoluten Musik“, wie sie das 19. Jahrhundert definierte und forderte. Ein Komponist wie Iannis Xenakis ging erst lange nach der Uraufführung von „Metastasis“ (UA 1955) auf die Bezüge zur Welt in diesem Werk ein. Hiekel regte an, diese Haltung als eine Antwort auf eine Verständlichkeitsdoktrin des Ostblocks zu verstehen und ihr alleine damit schon die Welthaltigkeit zu attestieren. Freilich gab es daneben dezidiert politisch orientierte Komponisten wie Luigi Nono, Klaus Huber und Bernd Alois Zimmermann. Als Nachzügler kann dieser Generation Helmut Lachenmann zugerechnet werden, dem zusammen mit Manos Tsangaris als Vertreter einer jüngeren Generation zwei Schwerpunkte der Tagung gewidmet waren.

Philosophisch-historischen Aspekten ging der Philosoph Dieter Mersch in seinem Vortrag „Das Reale in der Musik“ nach, in dem er den Bruch hin zur Performance bei John Cage verortete. Durch seine Fokussierung auf den Ton, das Geräusch und die Stille habe Cage die Wichtigkeit eines jeden Moments ausdrücken wollen und der konsequenten Verzeitlichung der Welt nachgespürt. Über die heutige Kunst sagt Mersch: „Wir sind heute relativer und occasioneller auf die Welt bezogen.“ Für den Philosphen öffnet Cage den Weg zu ganz neuen Möglichkeiten.

Während in den Konzerten, die im Wesentlichen vom Ensemble Asamisimasa aus Oslo und dem Kölner Ensemble Garage bestritten wurden, die Bezüge jüngerer Komponisten ausgeprochen plakativ daherkamen, sind sie in Lachenmanns Musik nur implizit und nach einer genauen Analyse der Partitur auszumachen. Hören lassen sich diese Bezüge bei Lachenmann oft erst einmal nicht. Neele Hülcker (geb. 1987) verarbeitet in „Eva und Neele“ die Reisen der Akkordeonistin Eva Zöllner in einem Video und filmt die Musikerin auf freiem Feld mit vorbeirauschendem Zug, in einem Fußgängertunnel, vor Strommasten. Die Musik, zum Teil live unterstützt von Eva Zöllner, nimmt das Brummen eines Strommasten auf, verarbeitet Hintergrundgespräche und Telefonschleifen und lässt Anklänge von „La Paloma“ vermuten. „The law of quality“ von Patrick Frank (geb 1975) übernimmt in seiner Performance die Ästhetik von Werbespots und behauptet die Veränderung in der Kunstrezeption von der Qualität hin zur Quantität. Für die Komponistin Brigitta Muntendorf bedeutet komponieren vor allem die Einlassung auf die Flüchtigkeit des verwendeten Materials, das bei ihr gerne aus Videoclips von YouTube oder Elementen aus den Social Media wie Facebook und anderen Internetportalen besteht.

Für Helmut Lachenmann bedeutet dies alles aber nicht mehr „komponieren“, sondern „arrangieren“. Er vermisst Ansätze, die ihm erlauben, sich noch einmal völlig neu zu orientieren, wie er sie bei Cage kennengelernt hat. Wie Lachenmann Stellung zur Welt bezieht, verdeutlichte sehr anschaulich der Vortrag des Musikwissenschaftlers Rainer Nonnenmann, der anhand der Partitur von „Schreiben – Musik für Orchester“ aufzeigte, wie sich ein dem Wort „Schreiben“ innewohnender „Schrei“ musikalisch entwickelt, wie die Expressivität dieses Werks zumindest von Zeitgenossenschaft zu erschütternden Ereignissen zeugt. Doch auch Lachenmann kann deutlicher werden, so in seinem im ersten Konzert der Tagung gespielten „Salut für Caudwell“ für zwei Gitarren, in dessen Werkkommentar Lachenmann ein flammendes Plädoyer für die Freiheit der Kunst in Erinnerung an den Schriftsteller Christopher Caudwell vermerkt.

Aus soziologischer Perspektive fragte die Musikvermittlerin Barbara Balba Weber danach, wie man einer „Lachenmann-losen Welt“ die Welt des Helmut Lachenmann nahebringen kann. Mit außermusikalischen Mitteln versucht der Komponist Manos Tsangaris (geb. 1956) sich der Problematik anzunähern. Für ihn braucht Kunst notwendig einen Rahmen, und zwar genau den Rahmen, der sich durch den seit dem 19. Jahrhundert etablierten Konzertbetrieb manifestiert. In der Regel laufe es so: „Beifall, der Dirigent kommt, Pause. Diese Pause symbolisiert ein Ausrufungszeichen mit der Aussage: ‚Achtung, jetzt kommt Kunst‘.“ Diesen Rahmen versucht Tsangaris aber nun, wenn nicht zu durchbrechen, doch wenigstens zu thematisieren. Für ihn ist der Rahmen eines Konzerts die Möglichkeit zur Vermessung von Realität. Veranschaulicht wurde dies durch die Aufführung seines „Mistel Album“ sowie durch „winzig“ aus „winzig“, aber auch durch die Erläuterungen von Raoul Mörchen, der anhand von Werken aus der bildenden Kunst die Relativierung eines Sachverhaltes durch die Größe eines Rahmens und die Position des Betrachters erklärte.

Die Vorträge, Workshops, sogenannten „Spotlights“ – ein neues Format der Frühjahrstagung, in dem sich Thomas Schäfer, Wolfgang Rüdiger und Hannes Seidl der kurzen Vorstellung themenrelevanter Werke und Komponisten zuwandten - und die Konzerte regten zum Nachdenken über Fragen an, deren endgültige Beantwortung nicht Sache dieser Tagung mit ihren 120 Teilnehmern sein konnte. Ist die starke Betonung des „Materials“ schon ein Ausdruck der Welthaltigkeit der heutigen Musik, indem sie dem vorhandenen Materialismus der Welt huldigt? Gilt diese Frage nicht auch für Boulez, Lachenmann und Stockhausen, die einen anderen Materialbegriff als heute hatten? Bringt die heutige „Materialisierung“ neue Inhalte mit sich? Ist das Medium die Message, um es mit Marshall McLuhan zu formulieren?

Ihren Abschluss fand die Tagung mit einer Präsentation der begleitenden Workshops für Kinder und Jugendliche, für deren Konzeption Helmut Bieler-Wendt verantwortlich war. Und da ist sie wieder: In der Flasche gurgelt es, man kann mit ihr auf dem Holzboden herumreiben, man kann sie poltern lassen. Jetzt stimmt der Rahmen. Nicht allerdings für das Handy aus dem Publikum.

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