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Jan Gerdes. Screenshot aus der Übertragung via YouTube.
Jan Gerdes. Screenshot aus der Übertragung via YouTube.
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Vom Reichtum neuer Klaviermusik – Recital Jan Gerdes bei der „Unerhörten Musik“ in Berlin

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Auch die „Unerhörte Musik“ Berlin hat ihren Spielbetrieb wieder aufgenommen. Jeden Dienstagabend ist also in den Räumen im fünften Stock der Berliner Kabarett-Anstalt (BKA) wieder das Neueste vom Neuen zu erleben, Berliner Provenienz mit internationalen Beimischungen. Und trotz Abstandsgebots und damit empfindlich reduzierten Plätzen herrscht nach wie vor die intime Clubatmosphäre, in der sich die Szene trifft; serviert wird am Tisch.

Bedurfte es in der Vergangenheit schon mal des Alkohols, um im durchweg Interessanten auch so manches Abstruses, Absurdes oder auch einfach handwerklich Dürftiges zu überstehen – „Meisterwerke“ kristallisieren sich bekanntlich erst im Laufe der nächsten hundert Jahre aus der Gesamtheit der Gegenwartsproduktion heraus – so war dies im Programm des Pianisten Jan Gerdes ganz und gar nicht der Fall. Hier überraschten und beeindruckten Dichte, Eigenwilligkeit und pianistische Attraktivität der vorgestellten Stücke, die trotz sehr unterschiedlicher kompositorischer Ansätze eine stimmige Abfolge ergaben. Einmal mehr zeichnete sich Gerdes, im klassisch-romantischen wie im zeitgenössischen Repertoire gleichermaßen bewandert – so kann in seinen Recitals durchaus Bach auf Stockhausen treffen – durch Vielseitigkeit und Experimentierfreude aus. So ließ er, der auch gerne mit spartenübergreifenden und multimedialen Projekten hervortritt, auch innerhalb des „normalen“ Konzertformats mit intelligenten und klangsensiblen Darbietungen den Reichtum, die Fantasie aktuellen Musikschaffens erleben.

„Colour me in“ hat Gerdes sein Programm genannt, nach einem Stück des Südafrikaners Andile Khumalo, um das Ohrenmerk auch auf außereuropäisches, nicht-weißes Komponieren zu lenken. Die Farbigkeit des gesamten Programms kann damit gemeint sein. Das minutenkurze Stück von 2016 ist einer Serie namens „Schnappschüsse“ (Snapshots) entnommen. Es ist dem aus Deutschland gebürtigen und u.a. von Erhard Karkoschka in Stuttgart ausgebildeten südafrikanischen Komponisten Jürgen Bräuninger gewidmet, der seinerseits Musik zu Horrorfilmen schrieb und zu Khumalos Lehrern in Durban gehörte. Zugleich soll es afrikanische Musikidentität im 21. Jahrhundert ausdrücken, inspiriert von den heimischen urbanen Klanglandschaften. Khumalo selbst ist in der westlichen Szene durchaus zuhause, studierte an der Columbia University bei Tristan Murail und in Stuttgart bei Marco Stroppa, nennt Kurse bei Salvatore Sciarrino oder Brian Ferneyhough. Fraglich, was hier spezifisch afrikanisch „eingefärbt“ ist; eher wirkt die Musik abstrakt-seriell, in Webernscher Knappheit harte, splittrige Klangfiguren über die gesamte Klaviatur verteilend. In seiner Sprödigkeit kann das schon wieder als „modern“ und unangepasst gelten angesichts der vielen heutigen um „Publikumsfreundlichkeit“ bemühten Werke. 

Eine Großstadtkulisse evoziert auch Andreas Staffel in seinen „Fluctuations“ (1999/2018) für Klavier und Tonband: Nach jazzig-improvisatorischem Beginn, den eine immer wiederkehrende herabstürzende Linie prägt, wird der Klavierklang durch verschiedene Filter gejagt, scheppert, wird zum nur noch pulsierenden Geräusch verdünnt oder zum Glockenklang gerundet und geht dann in naturalistischen Großstadtsound über, Verkehrsgeräusche und Stimmengewirr vom Time Square, aus dem verwehte Saxophonklänge zum Jazzidiom zurückführen. Weniger vordergründig gelingt es Jan Gerdes, Essenz und Atmosphäre des Themas „Gecko“ (2012/2020) zu umreißen. Die Kontraste von völliger Regungslosigkeit und plötzlicher Bewegung, die Gerdes an dem Tier faszinieren, formt er als langsam voranschreitende Basstöne mit allmählicher dissonanter Ausweitung in die Mittellage, als klanggewaltige Steigerung, in extremen Lagen schrill zugespitzt und wieder zurücksinkend. Eine „kleine Passacaglia“ nennt der Komponist das ebenfalls kaum mehr als zwei Minuten dauernde Stück, bekennt sich zum „Freischreiben“ als einer, der als Interpret um die Erfüllung anderer kompositorischer Intentionen „bis in die letzten Haarspitzen ringt.“

Auf eigenartige Weise berührten sich Anfangs- und Schlussstück des Programms, so dass vor allem dadurch Geschlossenheit entstand: Als Paraphrase auf Thelonious Monks berühmten Jazzstandard „Round Midnight“ ist „A Little Midnight Music“ (2001) von George Crumb fast zwangsläufig ein melodisch und harmonisch attraktives Stück, benutzt jedoch nur die ersten fünf Töne des Themas und kann so auch entlegenere Bereiche streifen. Eine Vielzahl von „Saitenspielen“, gezupft, geschlagen und gerissen, evoziert geheimnisvolle Nachtstimmung. Ein mit burschikosen Vorschlägen gespickter Abschnitt mündet in den Tristan-Akkord – nicht unähnlich Debussys „Gollywoogs Cakewalk“ – um dann die geraffte Gestalt des „Eulenspiegel“-Motivs von Richard Strauss anzunehmen, als Jazzfiguration weitergeführt. Eine Art „Pierrot lunaire“ ist hier mitternächtlich unterwegs, skurril, zerbrechlich, böse, poetisch, den Gerdes mit reicher Klangfarbenpalette malte. Diesem komplexen, pianistisch höchst anspruchsvollen Stück steht am Anfang des Recitals „Music for Grete“ (2003) von Roger Tréfousse gegenüber, eine Hommage an die Pianistin Grete Sultan, mit der der Komponist zwanzig Jahre lang studierte. Für die sehbehinderte Neunzigjährige musste er einstimmig schreiben, und so entstanden reduzierte, melodiebetonte „Bagatellen“, die ein Spektrum zwischen Sanftheit und Schärfe ausloten. Von Tréfousses Lehrer John Cage, dem auch Sultan freundschaftlich verbunden war und dessen für sie geschriebene „Etudes Australis“ sie häufig aufführte, scheint diese raffinierte Einfachheit ebenso beeinflusst wie etwa von Bartóks Stücken „Für Kinder“. Faszinierend, wie Gerdes hier lang gehaltene Einzeltöne und sanft geschwungene Linien mittels subtiler Anschlags- und Pedalisierungskunst mit Farbe und Leben erfüllte; frappierend auch, wie stark im Nachhinein das in sich kreisende Eingangssthema dem „Midnight“-Motiv Monks/Crumbs ähnelte.

Deutlicher noch als diese Werke ist Sidney Corbetts „Yoricks Skull“ auf einen Inhalt bezogen. Ein „Sturkopf-Stück“ nennt der Komponist sein Werk, das seine ingrimmige Attacke aus Shakespeares Hamlet – dem Auffinden des Schädels des Hofnarrs Yorick kurz vor Ophelias Begräbnis – bezieht und dies mit dem verzweifelten Aufbegehren des späten Beethoven kreuzt. Einiges Ausgangsmaterial entnimmt Corbett der Klaviersonate op. 110 sowie einigen Streichquartetten, doch ist dies unmerklich mit seiner persönlichen, sehr kompakten Sprache verschmolzen. Ein wenig gemahnen Energie und gleißende Helligkeit wilder oder krampfhaft stammelnder Akkordketten an Messiaen; wie gewaltsam wiederum holt Gerdes harte Basstöne aus dem Instrument, die den Hörer überfallartig anspringen. Ein Stück von beeindruckender Intensität und Kohärenz.

All dem stellt Christian Ofenbauer sich quer, allein der schlichte Titel „Klavierstück“ (2018) des Werkes besagt, dass es hier um nichts anderes geht als die Töne und ihre Beziehungen selbst. Eine Skala von ca. 22 Tönen füllt den Raum, im Diskant stufenweise abwärts steigend, in der gleichfalls abwärts geführten Unterstimme in wechselnden Abständen. In stets gemessenem Tempo und durchweg gedämpfter Laustärke erklingt dies in schier unendlichen Wiederholungen; zunächst nur zweistimmig, später auch in Doppelgriffen. Kleine „Zwischenspiele“ aus Repetitionen und Arpeggien lockern die strenge, um nicht zu sagen „eintönige“ Textur ebenso auf wie im weiteren Verlauf unregelmäßige Einsätze der linken Hand, die damit die Skala variieren. So entstehen feinste Differenzierungen, die kaum wahrnehmbar in mehr als halbstündiger Dauer ebenso ermüden wie überraschen können, transparent und zart, filigran wie eine fernöstliche Kalligraphie.


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