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Vom unwiderstehlichen Kitzel des ewig Neuen

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MaerzMusik 2006 – das Festival für aktuelle Musik in Berlin
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Man muss dem Künstlerischen Leiter der MaerzMusik, Matthias Osterwold, für dieses wahre Wort dankbar sein. Dass er die MaerzMusik ein Festival für „aktuelle Musik“ genannt hat, hebt wieder ins Bewusstsein, wie vergänglich doch die meiste Musik ist. Die Epoche, in der sich ein noch heute eini-germaßen verbindlicher Kanon bildete, ist eine historische Ausnahme gewesen.

Die Biennale, jenes Festival, das die MaerzMusik beerbt hat, hatte zuletzt versucht, durch die Wiederaufführung von Musik aus der Zeit von 1950 bis 1990 jene Werke zu finden, die paradigmatisch für ihre Zeit stehen könnten – mit wenig Erfolg. Nichts sei damit über Wert und Qualität der gesichteten Partituren gesagt, mehr dagegen darüber, wie sich eine Gesellschaft in musikalischen Werken gespiegelt sehen will: Offenbar gar nicht. Das einzige, was einem Publikum überhaupt noch Erregung zu bieten scheint, ist der Nimbus der Uraufführung, das Aktuelle also, und wenn es sich festivalmäßig häuft – um so besser.

Oder auch nicht. Denn je mehr die MaerzMusik den Durchlauf betreibt, die fortlaufende Vernichtung der Kompositionen durch die sofort danach erklingende, um so stärker leuchten jene Stücke, die so unaktuellen Kategorien wie Individualität, Werk oder Größe verpflichtet sind. Das Konzert des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling am Sonnabend in der Philharmonie wirkte angesichts von Ort und Programm im Rahmen der MaerzMusik einigermaßen fremd, und war doch überaus schön. Helmut Lachenmanns „Schreiben“ von 2004 erwies sich als ungeheuer souverän disponierte und in jedem Moment interessante und überraschende Partitur. Das provokative, geradezu ideologische Moment, das man an früheren Werken wahrzunehmen glaubte, macht entspanntem, gleichwohl ernstem Spiel mit einer riesigen Palette zwischen Geräusch und Klang Platz. Ein heiteres Stück ist „Schreiben“ gleichwohl nicht: Wenn im Zentrum des Stücks zwei Posaunen sich über das Orchester hinweg etwas zurufen, dann wirkt die Kommunikation eher gestört denn als Modell eines konstruktiven Dialogs. Dass Tragik und das Glück des Gelungenen zugleich vermittelt werden, ist allerdings in einer älteren Ästhetik Ausweis größter Meisterschaft gewesen. Dagegen hatte das Ensem-blekonzert „Poussla“ des Litauers Vykintas Baltakas keinen leichten Stand, aber wie viele Schüler Wolfgang Rihms hat auch Baltakas gelernt, sich selbst durch die Materie zu graben: Wie er aus den eigentümlich einreißenden Haltetönen des Beginns die Form entfaltet, mal die Haltetöne in den Mittelpunkt stellt, mal den Gestus des Einreißens, wie er beides immer wieder neu kombiniert, das war zugleich höchst konsequent wie unbedingt individuell. Dabei bricht der Orchesterklang immer wieder in die splittrigen Artikulationen eines gleich-sam konzertierenden Ensembles zusammen, in dem sich die klangliche Substanz sammelt und wieder auflädt.

Ein dergestalt dialektischer, zwischen Konsequenz und Subjektivität vermittelnder Begriff von musikalischer Logik ist heute selten. Im selben Konzert markierte Olivier Messiaens „Chronochromie“ eine niedrigere Stufe kompositorischer Arbeit, brav werden hier Skalen und Akkorde zusammengebastelt im Sinne einer für alle gültigen Logik – kein Wunder, dass die Serialisten es hoch geschätzt haben. Und damit nähern wir uns jenen Festival-Teilen, die für die MaerzMusik eher typisch sind.

Am Mittwoch und am Donnerstag spielten das Ictus-Ensemble und das ensemble on_line vienna Musik, zwischen der zu unterscheiden ein hohes Maß an Differenzierungswillen voraussetzt. Hier wurden Komponisten gespielt, deren Ausbildungsgänge sich zum Verwechseln ähneln – das IRCAM haben sie alle besucht –, und das schlägt erstaunlich direkt auf die uniformierten Stücke durch. Die Verläufe sind kontrastarm, der Klang ist, da Verfremdungen obligat sind und die Farben einander annähern, extrem unspezifisch. Wenn das ensemble on_ line im Konzertsaal Bundesallee Werke für europäische und japanische Instrumente spielt, verpufft die kulturelle Begegnung relativ wirkungslos, denn weder durch die Begegnung der Instrumente, noch durch die instrumentalspezifischen Spielweisen entstehen Reibungen oder Widerstände, die kompositorisch interessant gewesen wären. Dazu bedürfte es einer Achtung des Gewordenen, des Geschichtlichen und dadurch Charakteristischen, das in einem Festival für aktuelle Musik naturgemäß keinen Raum hat. Im Mittelstück ihrer vom Ictus-Ensemble im Kammermusiksaal uraufgeführten „Etheric Blueprint Trilogy“ nimmt die Komponistin Misato Mochizuki einen Gedanken aus dem Buch „Water knows the answer“ des japanischen Wissenschaftlers Masaru Emoto auf: Wasser lädt sich in seinen Verwandlungszyklen mit Energie auf, reichert sich mit Mineralien an und bildet auf diese Weise ein Art Gedächtnis aus. Es ist interessant, dass die Komponistin sich von diesem Gedanken fasziniert sieht, aber eine Musik schreibt, die jedes Gedächtnis löscht und in einer von allem abgekoppelten Aktualität vor sich hin treibt. Man mag in der Förderung des komponierenden Fußvolks, in der sich die MaerzMusik übt, ein Verdienst um Komponisten sehen, eines um das Hören ist es nicht. Und erst recht nicht, wenn die Veranstaltungen so schlecht organisiert und dramaturgisch so ungeschickt aufbereitet sind wie hier. Das Konzert des ensembles on_line reihte acht in Besetzung und Poetik ähnliche Stücke und noch traditionelle Musik für Sho und Shakuhachi hintereinander, da fehlte es an Höhepunkten, um die unweigerlich ersterbende Aufmerksamkeit zu beleben. Und im Abschlusskonzert mit Filmmusik von Toru Takemitsu, das das Deutsche Sinfonieorchester unter Ryusuke Numajiri am Sonntag im Haus der Festspiele bestritt, war es offenbar nicht möglich, Bilder und Musik we-nigstens annähernd zu synchronisieren, zumeist ergab die Kombination beider Schichten gar keinen Sinn.

10.000 Besucher hat man in 33 Veranstaltungen gezählt; wieviel das pro Veranstaltung sind, ist nicht schwer zu berechnen, und da man immer dieselben Gesichter sieht, greift man gewiss nicht zu tief, wenn man von 1.500 Personen ausgeht, die sich von der MaerzMusik angesprochen fühlen. So groß ist der Kitzel der Aktualität. Matthias Osterwold spricht dennoch von einem Erfolg.

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