Pollux, Herakles, Orpheus, Odysseus, Laokoon – die Besten der Besten, ein 50-köpfiges All-Stars-Team der Antike hatte einst Jason auf dem Schiff Argo versammelt, um auf einer gefährlichen Fahrt nach Kolchis im Kaukasus das goldene Vlies für seinen Onkel Pelias in die griechische Heimat zu holen. Auch Butes aus Attika ist bei diesem Abenteuer dabei – in der Argonautensage wird er von Apollonios von Rhodos allerdings nur mit zwei Zeilen erwähnt.
Der spanische Komponist José Maria Sánchez-Verdú stellt nun bei seiner neuen Oper „Argo“ (Libretto: Gerhard Falkner), die bei den Schwetzinger SWR Festspielen uraufgeführt wurde, diese Randfigur in den Mittelpunkt. Butes lässt sich im Gegensatz zu Orpheus, Odysseus und dem Rest der Argonauten vom Sirenengesang verführen. Er folgt seiner Leidenschaft, riskiert sein Leben und springt ins Meer. Aphrodite rettet ihn, sorgt für ein Happy End und letztlich einen gemeinsamen Sohn.
Für sein „dramma in musica“ hat der spanische Komponist, der an diesem Abend auch die musikalische Leitung hat, die gewaltige Geschichte auf wenige Szenen und Personen reduziert. Das SWR-Symphonieorchester sitzt bei dieser Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz nicht nur im Orchestergraben, sondern einige Bläser sind in den Logen des Rokokotheaters platziert. Das Freiburger SWR Experimentalstudio (Joachim Haas, Sven Kestel, Constantin Popp) schickt elektronische Klänge zu den im Raum verteilten Lautsprechern, so dass die Zuhörer von allen Seiten mit Musik umgeben sind. Sánchez-Verdú möchte das Theater zur Argo selbst machen. Die vielen Glissandi in den Streichern, Bläsern und Stimmen sollen von der unruhigen Fahrt des Schiffes künden, die keinen festen Boden kennt. Auch akustisch entsteht ein Schwanken, wenn die Klänge zwischen den Lautsprechern hin- und hergereicht werden. Diese Imagination wird in der poetischen, aber zu statuarischen Inszenierung von Mirella Weingarten auch szenisch unterstützt. Eine Wasserfläche auf der Bühne, in der sich in der ersten Szene im Halbdunkel nackte Frauenkörper zu einer sinnlichen Skulptur formieren, symbolisiert das Mittelmeer (Ausstattung: Etienne Pluss). Pendelnde Scheinwerfer lassen an eine Schiffsfahrt mit hohem Seegang denken (Licht: Ulrich Schneider).
Zu Beginn ruft Jason (solide, ohne zu glänzen: Martin Busen) in der Seitenloge seine Helden an, die sich hinter der Schiffswand als schwarze Gestalten abzeichnen (Chor des Staatstheaters Mainz/Sebastian Hernandez-Laverny). Orpheus (mit betörendem Schmelz: der Countertenor Alin Deleanu) und Butes (mit kernigem Bassbariton: Jonathan de la Paz Zaens) erscheinen auf einem Sprungbrett, das an der Bühnenwand herausgeklappt wird. Die drei von Sabrina Hölzer gebauten, wie übergroße Sirenen aussehenden Bühnenhörner werden vom Schnürboden herabgelassen und bewegen sich in ruhiger Drehung. Aus den Schalltrichtern erklingt der elektronisch bearbeitete, hinter der Bühne positionierte Frauenchor. Ganz bewusst haben die Verantwortlichen auf die Übertitelung des Geschehens verzichtet, um nicht von der Musik abzulenken. Allerdings hält sich deren Sogwirkung in Grenzen, weil sich Sánchez-Verdú zu oft wiederholt und keinen echten Spannungsbogen aufbaut. Die ewigen Glissandi ermüden, die häufige Kombination von extrem hohen und sehr tiefen Frequenzen ist nicht mehr als eine Farbe. Natürlich sind die elektronischen Klangflächen, deren Struktur sich andauernd wie eine Wasseroberfläche verändert, nicht ohne Reiz, aber es fehlt der Musik das Raffinement und vor allem die Dramatik.
Der meist vom Blech getragene Sirenengesang betört nicht. Man fragt sich, warum Odysseus (sonor: Brett Carter) nur gefesselt diesen eher spröden Klängen widerstehen kann. Auch Butes stürzt sich nicht kopflos ins Meer, sondern bewegt sich in Schwetzingen nach langer Bedenkzeit in Zeitlupe ins knöcheltiefe Wasser, wo er von Aphrodite (mit Catsuit, überlangem Haar und kristallinem Sopran: Maren Schwier) empfangen wird („ich begehre, Butes, dich mit meinen Hüften“).
Dieser Spannungshöhepunkt wird auch szenisch verschenkt. Die entfesselten Leidenschaften, von denen das Libretto erzählt, gefrieren in der stilisierten Bühnensprache. Bei diesem „dramma in musica“ fehlt leider das Drama. Und das Geschehen bleibt zu abstrakt und zu konstruiert, um wirklich zu berühren.