Wir suchen, und werden gefunden; wir erkunden die Welt, und werden geortet; wir informieren uns, und werden verblendet; wir kaufen ein, und werden verkauft. All unser Navigieren und Konsumieren im Internet erfährt algorithmisch gesteuerte Reaktionen, die unser Handeln einer uns fremden Kontrolle unterwerfen, die wir meist nicht einmal bemerken.
Von Big Brother zu Big Data
George Orwell skizzierte in seinem 1949 veröffentlichten Roman „1984“ die Vision eines totalitären Staats, dessen Kontrollapparat die konventionelle Arbeitsteilung von Bewachern und Bewachten dadurch auflöst, dass sich infolge allgemeinen Misstrauens alle selbst und gegenseitig überwachen. Derart lückenlos werden auch wir heutigen Internet- und Smartphone-User von den globalen Plattformkapitalisten, Digitalgiganten, Computer- und Softwareherstellern observiert und manipuliert. Statt Orwells „Big Brother“ leisten wir gegenwärtig gleich selbst freiwillig unsere Beiträge zur Informationsflut von Big Data und dem individuell auf uns zugeschnittenen Bewegungsprofil, das uns immer dichter in eine Filterblase verpuppt.
Gemäß dem Trend, Romane als Theaterstücke zu adaptieren, bearbeitete Kristo Šagor die Orwell’sche Dystopie für das Staatstheater Darmstadt. Zentral für die Inszenierung von Jörg Wesemüller sind Audio- und Videozuspielungen von Sergej Maingardt. Mit technoidem Soundtrack illustriert der Komponist die düstere Endzeitsituation in der durch ständigen Raketenbeschuss halb zerstörten Stadt, deren verelendete Bevölkerung mit Zigaretten und Schnaps der Staatsmarke „Sieger“ benebelt sowie durch faschistische „Säuberungen“ und Patrouillen der „Gedankenpolizei“ terrorisiert wird. Schauprozesse, Hinrichtungen, Kriegsfilme, Propaganda und Fake-News sorgen systematisch für Verrohung und Desinformation im postfaktischen Zeitalter: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Wissen ist Ohnmacht“. Beim Appell zur paramilitärischen Morgengymnastik peitschen harte Techno-Beats. Den Kauf einer Koralle beim Trödler begleitet als fernes Echo eine Klangkulisse von heiterem Strandleben. Erdrückend omnipräsent sind elektronisches Sirren, Zischen und Brummen wie von Robotern, Morsezeichen, Ticken, Klicken, Buffern und andere Störgeräusche. Die Maschinenmusik kommt fast ohne Humanmaterial aus. Lediglich das Atmen und Flüstern der Laiendarsteller, die als schwarz-uniformiertes „Big Brother-Kollektiv“ agieren, verschmilzt mit der Elektronik. Und transformierte Klänge von Akkordeon, Kontrabass und Innenklavier deuten auf die Mitwirkung realer Menschen. Doch bleibt ununterscheidbar, ob wirklich Musizierende spielten oder es sich einfach um Samples einer Sound-Datenbank handelt. Laut Auskunft des Komponisten wurden manche Elemente mit Hilfe einer KI generiert. Und das perfide daran ist, dass man das gar nicht merkt.
Die Hauptfigur Winston Smith (Thorsten Loeb) ist Agent des Überwachungsapparats, durchschaut aber die Lügen des „Wahrheitsministeriums“, das selbst noch die Vergangenheit umschreiben lässt, damit die Partei auch wirklich immer Recht hat. So wird eine gestern vorgenommene Kürzung der Lebensmittelration am nächsten Tag kurzerhand zur Erhöhung umgemünzt. In einer Frau (Mona Kloos) wittert der insgeheime Widerständler jemand gleichgesinnten. Choreograph Gianni Cuccaro bringt beide mit artifiziell verschlungenen Bewegungen von Nähe aus Distanz und Anziehung trotz Angst zusammen. Der gläserne und von anderen separierte Mensch ist Ziel jedes Autoritarismus. Dagegen sind persönliche Nähe, Vertrautheit, Mitgefühl und Privatheit subversiv – und werden entsprechend geahndet.
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