Über zeitgenössische Musik existieren viele Vorurteile. Die gängigsten lauten etwa, sie habe kein Publikum, ihr ginge jede Heiterkeit, jeder Witz ab. Ihre Macher würden sich in kunstvollen Elfenbeintürmen mit sich selber beschäftigen, ohne Kontakt zu den Menschen, ergo besitze Neue Musik keine gesellschaftliche Relevanz mehr. Alles Unsinn: Weit offen waren die Türen der Neuen Musik beim diesjährigen Eclat-Festival für Neue Musik in Stuttgart. Und wer kurz entschlossen am vergangenen Samstagabend ins Theaterhaus zu den Konzerten wollte, wurde wieder heimgeschickt: Ausverkauft. Dabei bietet der große Saal T1 des Theaterhauses Sitzplätze für über 1.000 Personen.
Es war ein besonderer Festival-Jahrgang 2015, man konnte beinahe von einer neuen Leichtigkeit der Neuen Musik sprechen. Dabei waren die Gefäße, die die beiden Festivalchefs, Christine Fischer und Björn Gottstein, zu füllen hatten, seit Jahren eingeführt: Exzellente Chorkonzerte mit dem SWR-Rundfunkchor, Experimentelles für Sprech-, Sing- und Experimental-Stimme mit den Neuen Vokalsolisten, aktuelles Musiktheater und im Rahmen der SWR Konzertreihe attaca ein Konzertabend mit dem Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR. Dazwischen Kammermusik, aktuell mit dem Ensemble Modern, dem Trio Accanto sowie einer obligaten Installation, dieses Jahr entworfen von Cathy van Eck.
Warum also ein besonderer Jahrgang? Es musste an der spezifischen Kombination von Klassikern der Moderne wie Nicolaus A. Huber, Georges Aperghis oder Philippe Manoury mit einer jüngeren Generation von Komponisten wie Brigitta Muntendorf, Stefan Prins, Oxana Omelchuk oder Mauro Lanza liegen, mit der die künstlerischen Leiter Traditionslinien aufgriffen, aber auch starke ästhetische Brüche hervortreten ließen. Vielleicht war sogar ein bisschen Mode mit im Spiel? In diesem Zusammenhang sei nur an die Schlagwörter von einer neuen „Diesseitigkeit“ der zeitgenössischen Musik respektive eines „Neuen Konzeptualismus“ erinnert.
Mit zwei großen Werken stand der dänische Komponist Simon Steen-Andersen im Zentrum des Geschehens: Sein dadaistisch-dekonstruktivistisches Stück für Dirigent, mikrofonierte Puppenbühne, Ensemble Modern und Live-Zuspielvideo war ein halbstündiges Spektakel überbordender Einfälle, voll von witzigem Spiel mit Musik übers Musikmachen und gespickt mit Überwältigungsszenarien, die unterhielten, ohne nur Entertainment zu bleiben.
Steen-Andersen steckte die Hände des Dirigenten in eine „Black Box Music“ – so der Titel des Stücks –, wo sie einen chaplinesken Tanz mit Zeichen, Gesten und Gegenständen aufführten. Jede noch so kleine Bewegung der Hände wurde von den exzellent agierenden und reagierenden Solisten des Ensemble Modern in stupende Klänge umgesetzt. Eine Musikgroteske, die zugleich Konzert, Film, Kabarett, Installation, Performance und intelligente Selbstreflexion „zeitgenössischen Musizierens“ war.
Simon Steen-Andersen hatte am Donnerstag und Freitag zuvor bereits mit einer weiteren Groteske zur Leichtigkeit des Stuttgarter Festivals beigetragen: Sein Musiktheater in fünf Szenen „Buenos Aires“ begann mit einer unerwartet vergnüglichen Kabarettnummer der Neuen Vocalsolisten, bei der einem das Lachen schlagartig im Halse stecken blieb, als Krankenwärter der Protagonistin Johanna Zimmer im Stile von Terry Gilliams schwarzer Filmkomödie „Brasil“ mitten in der Studioaufnahme für einen Popmusik-Jingle einen Sack über den Kopf zogen und sie im Rollstuhl zu einen peinsamen Verhör in einer Welt zwischen Science Fiction und kafkaeskem Grauen verbracht wurde. Ein schwarzes Theater, voller Gewalt und Angstzuständen, bei dem sich musikalische und szenische Einfälle gegenseitig überboten, und die zeigten, wie selbstbewusst Komponisten heute zwischen Komplexismus, Konzept und Pop-Kultur leben und arbeiten.
In diesem Zusammenhang muss auch Brigitta Muntendorf erwähnt werden, die aus dem Spannungsfeld zwischen akademischem Komponieren und hedonistischem Clubleben Anregungen für eine Musik schöpft, die hochartifiziell ist und gleichzeitig in ihrer Klanglichkeit, ihrem Bewegungsgestus direkt und unmittelbar ist. Ihr Klavierstück „The key of presence“ ist große Musik für kleine Besetzung: Das Klavierduo GrauSchumacher bediente zwei erweiterte Flügel und ihre mikrofonierten Körper virtuos.
Auch die Musik der jungen Preisträger des 1955 erstmals vergebenen Kompositionspreises der Stadt Stuttgart, der damit der älteste Preis dieser Art in Deutschland ist, waren symptomatisch für die stilistische Offenheit und Unangestrengtheit des Stuttgarter Festivals. Die Italienerin Clara Iannotta hatte inspiriert vom Geläut des Freiburger Münsters das Ensemble-Stück „Clangs“ in drei Teilen geschaffen, das mit dem Ausklang der Glocken beginnt, und das ohne jede illustrative Anbiederung eine Struktur schafft, die – obwohl fast durchgängig im pianissimo-Gestus gehalten – einen großen Spannungsbogen erzeugte.
Vitalistisch zupackend dagegen der zweite Preisträger Daniel Moreira, der mit „Emergency Procedures“ für großes Ensemble, vier Solisten und Elektronik einen Beinahe-Flugzeugabsturz vertont hatte. Eine Musik für eine Lichtspielszene im Comic-Stil mit viel Quietsch, Boing, Polter und Jaul – zwölf Minuten atemlose Musik.
Ausgezeichnet wurden auch die beiden Zentralensemble des Festivals, ohne die Eclat nicht Eclat wäre. Der Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik ging an den SWR Chor und die Neuen Vocalsolisten für die Einspielung der Wölfli-Kantata von Georges Aperghis auf Cyprès Records unter Marcus Creed. Die Laudatio über die in der Kategorie „Zeitgenössische Musik“ ausgezeichnete Aufnahme hielt die Journalistin Susanne Benda als Mitglied der Jury.
Mehr zum Festival Eclat im Spannungsfeld zwischen Chor- und Orchesterkultur, Lachenmanns ästhetischem Apparat und der schönen neuen digitalen Musikwelt in der nmz März 2015.