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„Reflections of the Mind“: ein tänzerisches BioPic zum Leben Mozarts. Foto: Irene Trancossi

„Reflections of the Mind“: ein tänzerisches BioPic zum Leben Mozarts. Foto: Irene Trancossi.

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„... von der niemand mehr abzuhauen Lust haben würde“

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Der 48. Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano · Von Reinhard Olschanski
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„Das kleine Bergnest, voller wunderbar schweigender und mahnender Architektur … von wo die Jugend wegstrebt wie verrückt, weil es dort nicht einmal ein Kino gibt … das wollte ich nun in eine aufregende Werkstatt verwandeln, von der niemand mehr abzuhauen Lust haben würde“. Der Impetus, mit dem Hans Werner Henze 1976 den Cantiere Internazionale d´Arte, die Internationale Kunstwerkstatt in Montepulciano, gründete, hätte stärker kaum sein können.

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Er wollte einen „Modellfall für moderne demokratische Kunsterziehung und -übung schaffen“ und lag damit im Trend der Zeit. Es ging um Kunst und Bildung nicht nur als abstraktes Recht, sondern als selbstverständliche Möglichkeit für Alle – jenseits von sozialer Schicht und familiärem Hintergrund. Und es sollte eine Kooperation sein, in der Amateure, Studierende und hochkarätige Künstler und Künstlerinnen wechselseitig voneinander lernten. Die ungebrochene Begeisterung der Amateure plus professionelle Genauigkeit und Disziplin – das waren die Grundzutaten von Henzes Montepulciano-Pädagogik.

Henze und Italien

Die Gründung des Festivals – geplant war ursprünglich nur eine einzige Sommerwerkstatt – lag für Henze in der langen Linie eines persönlichen Auf- und Ausbruchs. Seine Übersiedlung nach Italien im Jahr 1953 war ein hervorstechendes Datum. Er blieb bis zu seinem Tod 2012 fast 60 Jahre lang und wurde zum wichtigsten neueren Vertreter einer illustren deutschen Italienbegeisterung, die zuvor auch Kaiser, Dichterfürsten, Maler und Musiker erfasst hatte, und die, glaubt man Mozart, zeitweise sogar in einen „entsezlichen Welschlands Paroxismus“ ausgeartet sein soll.

Henze suchte nicht einfach ein Land, in dem Zitronen blühen, oder, wie Heinrich Schütz, nach der „rechten Musicalischen hohen Schule“ in Italien. Er wollte der Enge der Adenauerzeit entkommen, die für ihn als homosexuellen Mann gleich doppelt drückend war. Und er fand Anschluss an eine italienische Kulturszene, die über ganz eigene Kraftquellen verfügte. Es waren nicht zuletzt die aus der Resistenza, dem Kampf für die Befreiung vom Faschismus hervorgegangenen. Diese Befreiung wurde von vielen italienischen Künstlerinnen und Künstlern auch als eigene Leis­tung empfunden. Die Demokratie war etwas selbst Erkämpftes.

Henze warf sich mit großer Emphase und minimalem Etat in die Arbeit am Cantiere. Die Geldmittel waren, wie der Henze-Schüler Detlev Glanert – heute einer der bekanntesten deutschen Opernkomponisten – schmunzelnd berichtet, „selbst für ein No-Budget-Fes­tival ziemlich Low“. Bis heute arbeiten die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler unentgeltlich, bei freier Kost und Logis. Anders wäre das Fes­tival wohl kaum zu stemmen. Dass damit auch ein Stück kreativer Selbstausbeutung einhergeht, weiß der aus Montepulciano stammende Dramaturg und frühe Henze-Mitstreiter Carlo Pasquini zu berichten.

Henzes Kapital waren nicht zuletzt seine Kontakte zu den wichtigsten Musikern, Komponisten, Schauspielern und Choreographen der Zeit. Damit gelangen ihm bis 1980 spektakuläre Produktionen und Aktionen. Riccardo Chailly dirigierte Verdi in piazza. Auch der frühe Forsythe produzierte in Montepulciano. Und Henzes Kinder­oper „Pollicino“, die dem ganzen Genre einen Auftrieb verschaffte, wurde hier uraufgeführt. Nach dem 5. Cantiere zog Henze sich zeitweise vom Fes­tival zurück. Als er 1989 wiederkam, übernahm Glanert für einige Jahre und in enger Kooperation mit Luciano Garosi die Leitung der örtlichen Musikschule. Mit der Schule, die inzwischen Istituto Henze heißt, erhielt die Sommer-Werkstatt eine ganzjährige Basis. Das Istituto ist mit seinen fast 1.000 Schülern, zahlreichen Ensembles und Dependancen in den Nachbargemeinden ein wichtiger Kulturfaktor in der ganzen Region.

Eine weitere Basis kam für das Kulturleben der Stadt 2001 mit dem „Palazzo Ricci“ hinzu. Er wurde der Kölner Hochschule für Musik und Tanz im Gegenzug für dessen Restaurierung zur Nutzung überlassen – eine echte kulturelle Win-Win-Situation. Der Palazzo, an dem inzwischen sieben Kunst- und Musikhochschulen des Landes Nord­rhein-Westfalen beteiligt sind, bietet viele Monate im Jahr Meis-terkurse und Workshops. Der begleitende Konzertbetrieb ist ein zusätzliches Highlight. Und die langjährige Geschäftsführerin Erdmuthe Brand ist mit ihrer Arbeit längst ebenfalls ein Faktor im regionalen Kulturgeschehen und in der kulturellen Verbindung mit Deutschland.

Leitfaden Memoria

Zuletzt leitete Mauro Montalbetti das Festival. Der 1969 geborene Komponist hat den Cantiere durch die schwierige Coronazeit geführt und blickt zum Ende seiner dreijährigen Amtszeit auf eine reiche ästhetische Ausbeute zurück, nicht zuletzt auf 50 vom Cantiere beauftragte Produktionen und Uraufführungen. Seine Cantieri hat Montalbetti als „trilogia senzo titolo“ bezeichnet, um ihnen im Gespräch dann noch ein Arbeitsmotto beizulegen: „coerenza e gioia (fatticosa)“ – „Kohärenz und (mühsame) Freude“.

Für starke Fäden der Kohärenz sorgte nicht zuletzt sein Bemühen um historisch-kulturelle Erinnerung. Beim letztjährigen Cantiere stand Pier Pao­lo Pasolini im Mittelpunkt. Der Autor und Filmemacher ist als Chronist der großen Veränderungen im Nachkriegs­italien, dem italienischen miracolo economico oder dem Aufkommen des consumismo, ja selbst ein Memoria-Künstler par excellence. Montalbetti hat gemeinsam mit Antonio Gia­cometti ein Erinnerungskonzert für ihn geschrieben und in Montepulciano aufgeführt. In diesem Jahr legte er eine Erinnerungsspur rund um Luciano Berio und dessen Folk Songs, die von einer aufmüpfigen und selbstbewussten Volkskultur künden. Die Aufführung im Klosterhof von Sant’Agnese zählte zu den Höhepunkten des Cantiere 2023. Auch die Uraufführung der Canti di Filatrici des jungen ligurischen Komponisten Vincenzo Parisi konnte an diesem Abend beeindrucken. Es handelt sich um traditionelle Lieder von Spinnereiarbeiterinnen, die in Parisis Werk eine gelungene Synthese mit den Ausdrucksmitteln der zeitgenössischen Musik eingehen. Das gilt auch für die achte Folge der Folk Songs des in den USA lebenden Iraners Reza Vali (geb. 1952), dessen Arbeit die vielfältigen Musikkulturen des Iran zugrunde liegen.

Der Abend zeigte auch, wie Memoria im Kontext von Neuer Musik einen stimmigen Kommentar zum aktuellen Populismus liefern kann, der ja die „authentische“ Stimme des Volkes sein will. Montalbettis Ansatz ist zudem ein Stück Widerstand gegen die Verflachung und Auslöschung von Erinnerung, wie sie mit Berlusconis „Telekratie“ über die italienische Kultur kam. Denn eine besondere Tragik der italienischen Entwicklung liegt darin, dass der Medien-Cavaliere zwar viel Lärm machte, aber wie ein geistig-kulturelles Schlafmittel wirkte und Initiativen wie den Cantiere in Italien heute ziemlich einsam dastehen lässt.

Das jugendliche Zeisig-Klaviertrio aus Deutschland musizierte auf einem beeindruckend hohen Niveau. Nach einem anspruchsvollen Programm mit Stücken von Mendelssohn-Bartholdy, Schostakowitsch und Brahms folgte die mit verschmitzter Freude vorgetragene Resistenza-Hymne Bella Ciao.

Einen starken künstlerischen Akzent setzten die beiden Kölner Musikprofessorinnen Florence Millet (Klavier) und Ariadne Daskalis (Violine), die auch künstlerische Leiterin des Palazzo Ricci ist. Aus einem Kammerkonzert mit überwiegend zeitgenössischen Kompositionen blieb nicht zuletzt Berios schwer zugängliche und von Florence Millet äußerst plastisch dargebotene Sequenza IV in starker Erinnerung.

Mit seinen Tanzaktivitäten will der Cantiere die großen italienischen Häuser daran erinnern, dass sie mehr zur Jugendförderung in diesem Bereich beitragen könnten. Bei der Choreographie „Reflections of the Mind“, einem tänzerischen BioPic zum Leben Mozarts, aufgeführt von der aus Amateuren und angehenden Berufstänzern bestehenden Compagnia Cantiera Danza, gelang das sehr gut. Und auch das junge, während des Stückes im Dauereinsatz durchspielende Streichquartett hat eine große Leistung abgeliefert. Schwieriger wurde es bei Tanzdarbietungen, die mit zahlreichen improvisatorischen Elementen arbeiteten. Derartige Improvisationen setzen viel Routine und eine tiefe Vertrautheit mit der tänzerischen Formensprache voraus, für die es dann schon einen Cantiere-Altmeister wie Giorgio Rossi braucht.

Opern für Kinder und Erwachsene haben eine lange Tradition beim Cantiere – angefangen mit Henzes berühmtem „Pollicino“ (Libretto: Giuseppe di Leva (1980) über Glanerts „Enigma“ (Die drei Rätsel, Libretto Carlo Pasquini, 2003) oder Montalbettis „Brimborium“ (Libretto: Francesco Peri, 2012). Dieses Jahr brachte die Uraufführung der „Cronache del Bambino Anatra“ (Chroniken des Entenkinds) von Antonio Giacometti (Libretto: Sonia Antinori). In den „Chronache“ geht es um die Klippen des Hineinwachsens und die Tragik des Herausfallens aus der gemeinsamen sozialen Welt. Ein Junge erfährt aufgrund seiner Leseschwäche Ablehnung und Ausgrenzung durch Mutter und Altersgenossen. Auf einer zweiten, Jahrzehnte später angesiedelten Handlungsebene ist aus dem Jungen ein bekannter Musiker geworden, der sich um seine demente Mutter kümmert. Die fünfzehn Bilder der Kammeroper gestalten die beiden Ebenen als inverse Struktur von Hilflosigkeiten in Jugend und Alter. Der junge Dirigent Giuseppe Prete hält das komplexe Stück souverän zusammen. Dem mitwirkenden Kinderchor des Instituto Henze hätte man allerdings ein paar zusätzliche schlagkräftige Szenen auf der Bühne gewünscht.

Tatsächlich dürfte es in Italien wenige Kleinstädte geben, die ein vergleichbares Kulturleben wie Montepulciano bieten. Der 14.000-Seelen-Ort hat sichtbar von einem Cantiere profitiert, der vieles von dem auf den Weg brachte, was Henze sich ursprünglich erhoffte. Niemand muss heute mehr „ab­hauen“, weil das Kulturleben darniederliegt. Auch die Region Valdechiana, die sich mit Montepulciano als wichtigem Mitspieler gerade um den Titel der Italienischen Kulturhauptstadt 2026 bewirbt, profitiert davon.

Der Ort konnte sich zudem mit Tourismus und einer neuen Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten eine tragfähigere wirtschaftliche Basis schaffen. Er hat sich allerdings auch neue Widersprüche eingehandelt. Die Grenze zum Übertourismus ist noch nicht überschritten, aber der historische Stadtkern ist inzwischen deutlich vom touristischen Interesse geprägt.

Die Treffpunkte der „Polizianer“, wie die Einheimischen sich selbst nennen, befinden sich längst anderswo. Gleichzeitig erreicht der Klimawandel auch die Südtoskana, nicht zuletzt mit außergewöhnlich hohen Temperaturen während des Cantiere – und mit schrillen tagesaktuellen Kommentaren in den Medien. So riet der Lebenspartner der gegenwärtigen italienischen Ministerpräsidentin dem in Italien urlaubenden deutschen Gesundheitsminister Lauterbach, doch zu Hause zu bleiben, wenn ihm die Folgen des Klimawandels in Südeuropa nicht passen – ein Kommentar, der zur praktischen Lösung des Megaproblems eher wenig beitragen dürfte.

Zukunft des Cantiere

Vom nächsten Jahr an wird die junge Pianistin Mariaangela Vacatello für drei Jahre das Cantiere leiten. Damit geht die Stadt, die das Festival 2005 in ihre Regie übernahm, neue und zum Teil überfällige Wege. Denn bisher hatte noch keine Frau die Leitung inne. Auch die Wahl einer Instrumentalistin ist ein Novum. Zuvor leiteten Komponisten und Dirigenten das Festival, unter anderem auch Detlev Glanert von 2009–2011 und bis 2020 der deutsche Dirigent Roland Böer. Das 50. Cantiere im Jahr 2025 und Henzes 100. Geburtstag 2026 bringen wichtige Jubiläen. Dabei wird es auch um ästhetisch-didaktische Selbstvergewisserung und Erinnerungsarbeit in eigener Sache gehen. Viele „fili“ zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind zu spinnen und zu weben.

Zudem steht der politische Rechtsruck auch in Montepulciano wie ein Elefant im Raum. Denn Berlusconi hat nicht nur die italienische Alltagskultur banalisiert und ent-memoriert, sondern auch die Mussolini-Nachfolgepartei hoffähig gemacht, die heute die Regierung in Rom anführt. Mit einer immer rabiateren Politik strebt diese Kraft nun auch nach mehr Einfluss in den Kulturinstitutionen. Andererseits zeugt das wider alle Wahrscheinlichkeiten fortbestehende Cantiere auch von der untergründigen Stabilität und Kontinuität des Landes, die unter den wilden tagespolitischen Volten oft übersehen wird. Eine Überlebensgarantie für das Festival ist das allerdings nicht. Im nächsten Jahr sind Kommunalwahlen.

Ein trauriges Faktum am Rande ist der Verkauf der Henze-Villa „La Leprara“ in Marino bei Rom, rund 200 Kilometer südlich von Montepulciano, im Sommer 2021. Das Haus, in dem Henze viele Jahrzehnte seines Lebens verbrachte, ist ein historischer Ort für Neue Musik aus Deutschland und ein authentischer Ort der künstlerischen Begegnung mit Italien. Der Henze-Stiftung fehlten, verschärft noch durch Corona, die Mittel für den Unterhalt. Henzes Arbeitszimmer und seine Gemäldesammlung sind der Stiftung erhalten geblieben. Der Stiftungsvorsitzende Michael Kerstan sucht nach einem angemessenen Ort der Präsentation.

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