Earth Dances zum Abschluss: Mit Harrison Birtwistles Orchester-Tanz hat das Gürzenich-Orchester das Kölner MusikTriennale-Publikum nach knapp 100 Konzerten geerdet. Zwischenzeitlich war es Karlheinz Stockhausen in kosmische Höhen gefolgt.
Köln hat einen Ruf als Musikmetropole zu verlieren. Es erstaunt den geneigten Leser daher vielleicht, dass die Stadt lediglich alle drei Jahre ihre musikalischen Kräfte bündelt, um sich als solche mit einem Festival für zeitgenössische Musik zu präsentieren.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Musikszene Kölns rief der Gründungsintendant der Kölner Philharmonie, Franz Xaver Ohnesorg, 1994 gemeinsam mit der damaligen Musikreferentin der Stadt, Renate Liesmann, und dem WDR Musikabteilungsleiter Heiner Müller-Adolphi die MusikTriennale ins Leben. Nicht mehr und nicht weniger als eine Bilanz des 20. Jahrhunderts schwebte ihnen im Rahmen des Festivals vor. Zeitgenössisch meint jedoch längst nicht allein die Zirkel der komponierenden Avantgarde: Die MusikTriennale streckt ihre Fühler nach Neuer Musik, Weltmusik, Klassik und Jazz gleichermaßen aus. Zu umfangreich ist das Programm inzwischen, als dass ein Mensch allein den ganzen Parcours absolvieren könnte. Wer die gesamte Kölner MusikTriennale des Jahres 2010 beschreiben wollte, müsste über mindestens zwei Sätze Ohren und doppeltes Sitzfleisch verfügen. Allein Gesamtleiter Louwrens Langevoort, der das Festival zum zweiten Mal verantwortete, scheint unter seinen rund 50.000 Zuschauern über diese Sondergabe zu verfügen – er ward noch an jeder Spielstätte gesehen. Selbst im Kölner Zoo, wo die MusikTriennale 2-20 in diesem Jahr lautstark auf sich aufmerksam machte.
Bereits in ihrer vergangenen Ausgabe hat die MusikTriennale Konzerte für junge Besucher zu einem integralen Bestandteil des Programms gemacht. In diesem Jahr war erstmals ein Konzert für Kinder ab einem Jahr zu erleben – ein erfolgreiches Unterfangen. Aber auch für den etwas reiferen „Nachwuchs“ gab es in Form des erstmals durchgeführten Kompositionswettbewerbes der MusikTriennale ein attraktives Novum, das im Finalistenkonzert im Funkhaus des WDR seinen Höhepunkt fand.
Mit Peter Rundel war ein Spitzendirigent geworben, die drei gekürten Werke mit dem Thürmchen-Ensemble einzustudieren. Wer es unter den 70 Einsendern bis hierhin gebracht hatte, hatte also bereits gewonnen: Drei Preise in Höhe von 5.000, 2.500 und 1.500 Euro wurden vergeben. Den ersten Preis erhielt Hannes Dufek mit seinem Stück landschaft_ _interpretation; wiederkehr, neuanfang, spiegelung; verdopplung._bild. (2009) (die strahlkraft des augenblicks) – nicht, wie man glauben könnte, für die Länge des Titels, sondern das handwerklich gekonnte „floaten“ zwischen unterschiedlichen Allusionsebenen. Zweiter und dritter Preis gingen an Martin Grütter und Juan Camilo Hernández Sánchez. Wenn es gelänge, diesen internationalen Wettbewerb zu institutionalisieren, wäre das für die MusikTriennale sicher ein Gewinn.
Erfreulich auch, dass sich die Kölner Hochschule für Musik und Tanz mit dem neu gegründeten Institut für Neue Musik wieder im städtischen Musikleben zurückmeldete und unter anderem mit Hanns Eislers Deutscher Sinfonie das Programm bereicherte. Überhaupt wurden manche Highlights dieser MusikTriennale nicht allein von den zugereisten Spitzenorchestern gesetzt: Mit den Wiener Philharmonikern unter Daniele Gatti, den Münchner Philharmonikern unter Lorin Maazel, dem Arditti String Quartet mit SWR Sinfonieorchester oder dem Ensemble Intercontemporain unter Susanne Mälkki waren sie zwar präsent und begeisterten durchaus. Prägende Eindrücke von dieser MusikTriennale hinterließen jedoch nicht zuletzt die Auftritte des Ensembles musikFabrik, das neben einer Aufführung von Stockhausens Hymnen unter Leitung von Peter Eötvös gemeinsam mit zahlreichen Gastmusikern die erste Gesamtaufführung von Stockhausens unvollendetem Werkzyklus KLANG realisierte. Binnen 24 Stunden wurde Stockhausens opus ultimum an neun verschiedenen Spielstätten – zwischen römischen Ruinen, in Kirchenräumen oder im Kölner Mediapark – gleichzeitig gespielt: Eine Gelegenheit, sich im Laufe von zwei Tagen seinen ganz persönlichen KLANG-Tag zu erwandern. Das hohe interpretatorische Niveau tröstete über manche Gleichförmigkeit einzelner Stunden hinweg und ließ das Großprojekt zum erwarteten Höhepunkt avancieren. Es zeigte sich, dass weniger die Konzerträume als die Kirchen den richtigen Rahmen für diese vom christlichen Glauben grundierte Musik boten – auch dann noch, wenn sie, inspiriert von den Lehren des Urantia-Books, ins kosmische Dunkel abdriftete. In Summe überraschte doch die Vielgestaltigkeit, die auch Stockhausens letztes Werk durchzieht: von der elektronischen Raummusik Cosmic Pulses über kammermusikalische Trios und Ensemblestücke bis zur szenischen HIMMELSTÜR, in der sich in nuce der gesamte Stockhausen-Kosmos findet.
Es bedurfte eines großen programmatischen „Schirms“, um die durchweg anspruchsvollen und ansprechenden Programme der MusikTriennale darunter zu versammeln. Zu selten jedoch wurde das Oberthema „Heimat-heimatlos“ so greifbar wie in den Konzerten, die der Geiger Daniel Hope mit dem Chamber Orchestra of Europe und befreundeten Künstlern – darunter Roman Trekel, Dominique Horwitz und Ulrich Matthes – in den letzten Tagen ausgestaltete.
Sollte es gelingen, wie die Macher es sich erhoffen, die MusikTriennale künftig jährlich zu veranstalten, wäre es sinnvoll, den Anspruch des Festivals zu konzentrieren: zeitlich, wie inhaltlich. An interpretatorischem Niveau und organisatorischer Qualität ist sie jetzt schon kaum zu übertreffen. (Allerdings wäre ein Festivalpass sicher eine willkommene Neuerung, die wohl manche Schwellenangst nehmen würde.) Kämen dramaturgische Stringenz und ein deutliches programmatisches Profil hinzu, wäre ein solches Festival ein weithin strahlender Leuchtturm für die Musikstadt Köln.
Doch ein Festival, so hörte der Autor jemanden sagen, funktioniert anders als ein iPod.