„Mass“, eine der ganz großen Schöpfungen Leonard Bernsteins, ist ein Theaterstück für Sänger, Spieler und Tänzer. Das Libretto folgt zwar der römisch-katholischen Messliturgie, ist jedoch um infrage stellende Texte von eschatologischer, zugleich dramatischer Qualität erweitert. Sie setzen sich bildreich und voller Aktivität mit dem Ritus auseinander. Verfasst hat sie Bernstein selbst, der, wie man weiß, der jüdischen Tradition verbunden ist, in Zusammenarbeit mit Stephen Schwartz, der das ebenfalls religiös basierte Musical „Godspell“ schuf.
Der „Lübecker Totentanz“
Nur ca. 150 m liegen in Lübeck die Marienkirche, das altehrwürdige gotische Backsteinmonument, und das Jugendstilgebäude des Theaters auseinander. Jetzt holte sich das Haus an der Beckergrube die prägnante Totentanzkapelle aus dem Sakralbau auf die Bühne. Sie wurde zu einer grandiosen Szenerie für Bernsteins Anliegen. In der Operngeschichte gibt es viele Szenen, die in Kirchenräumen spielen. Diese Inszenierung (Ausstattung: Stefan Rieckhoff) aber schafft eine besondere Aura. Zum einen erreicht sie das mit der sichtbaren Anspielung auf einen realen Kirchenraum, auf seine Säulenreihen, auf seine Kirchenbänke. St. Marien kennen wohl alle Lübecker, sind in ihr zu Hause. Eindrucksvoll leuchten zudem im Hintergrund der Bühne drei gotische Fenster, die zwei Glasmalereien zitieren. Mit ihnen wollte 1955/56 Alfred Mahlau an Bernt Notkes „Lübecker Totentanz“ erinnern. Das großartige Kunstwerk aus dem Jahre 1460 verbrannte vor 75 Jahren in der Nacht zum Palmarum nach einem Fliegerangriff. Gegen Sprengbomben war es geschützt, nicht aber gegen die Brandbomben, die in der „Nacht des Schreckens“ als Antwort auf die deutsche Bombardierung von Coventry einen großen Teil der Lübecker Innenstadt in Schutt und Asche legte. Das schafft eine weitere Erinnerungsebene, die den Betrachter nahe an Bernstein heranführt. Die „Mass“, 1971 uraufgeführt, ist auch eine Antwort auf die politische Situation. Die entsetzlich wirkenden Napalmbomben, Brandbomben auch sie, führten im seinerzeit tobenden Vietnam-Krieg zu unermesslichem Leid, auf beiden Seiten.
Zweifel und Glaubensfestigkeit
Bernstein suchte in den Texten zu „Mass“ nach Antworten für das Unerklärliche, für die Frage, warum Gott das Übel auf der Welt zulässt, den Krieg, den Rassismus, die Unterdrückung von Frauen, die hemmungslose Zerstörung der Umwelt. Es wurde so zu einem sehr persönlichen Werk, das auch in dieser Inszenierung für heftige Kontroversen sorgen wird. Immerhin schreiben wir das Jahr 500 nach Luthers Thesenanschlag. Die streng gegliederte Messfeier der katholischen Kirche, selbst ein klerikales Schauspiel, bildet den Rahmen für das Geschehen. Hinter dem Ritus steht die große Gruppe der Konservativen, die als Ministranten und Gläubige, aber auch als fröhlich unbekümmerte jugendliche Messdiener unterschiedliche Glaubenspraxis demonstrieren. Aber der Zelebrant selbst gerät in Zweifel über die Wirkung von Gottes Wort und verzagt. Verursacht wird die Krise durch eine Gruppe von der Straße hereinbrechender junger Leute, als Skelette maskiert. Jeder hat seine eigene Geschichte. Alle aber stellen Fragen, weil sie im Glauben vergeblich nach Antworten suchen. Ihr „I don’t know“ bewegt, weil sie zwar aufnehmen, was gepredigt wird, aber es nicht fühlen können, weil sie an Gott glauben sollen, auch wollen, aber doch keine Antwort darauf bekommen, wer an sie glaubt. Einer formuliert das Dilemma: „Eine Hälfte der Leute ist ertrunken, die andere schwimmt in die falsche Richtung.“ Der Priester, der die Wahrhaftigkeit ihres Zweifelns sieht, kann nur immer wieder auf Gottes Wort verweisen. Wenn er nicht antworten kann, wird sein „Lasst uns beten!“ zur hilflosen Formel, bis er selbst verzweifelt. Und doch endet das Stück, wenn der Chor die Bühne in den Zuschauerraum hinein verlässt, mit einem aufleuchtenden Laudate, ein Ite missa est der stillen Hoffnung, dass Gottes Wort nicht vergänglich ist.
Musik aller Art
Die Musik verlangt viel von einem Stadttheater. Stilistisch zitiert Bernstein, der in der Angst lebte, nicht als Komponist, sondern nur als Dirigent in Erinnerung zu bleiben, aus einer Fülle von Musikarten. Die vokalen Partien nutzen antiphonale und responsoriale (wechselchörige oder antwortende) Aufführungspraktiken der Gregorianik, erinnern auch an Spiritual oder Gospelsang. Die Instrumente des sinfonischen Orchesters lassen den Anklang an opernhaft ariose, auch an jüdische Kultgesänge zu. Die Sänger des Street-Chorus bringen Blues und Jazz, auch Rock und Broadwayanklänge mit. Und selbst Partien von atonaler Gestaltung fügen sich ein, nicht immer ganz bruchlos. Mit Sängern des Opernensembles und des Internationalen Opernelitestudios, mit spezialisierten Rock- und Blues-Sängern, mit dem Chor, dem Extrachor und dem Kinder- und Jugendchor des Theaters und der Musik- und Kunstschule, mit dem wunderbar klingenden Phemios-Kammerchor, mit Mitgliedern des Nordelbischen Knabenchors stehen unterschiedlichste Vokalensembles auf der Bühne oder an besonderen Positionen im Haus. Instrumental setzen sich das Philharmonische Orchester, selbst in die Bühnenhandlung einbezogen, und Bands der Musikhochschule ein. Alles zusammenzuhalten obliegt Andreas Wolf, der in den meditativen Zwischenszenen feine, zarte Stimmungen erzeugt und in den exzessiv rhythmischen Alleluja-Partien eruptive Lebensfreude vermittelt.
Überzeugendes Regieteam
Es ist auch ein Abend eines einzelnen Sängers, des Lübecker Ensemblemitglieds Gerard Quinn, der alles gibt, den Zelebranten lebensecht zu gestalten. Wie er zu Beginn „Gott ein einfaches Lied“ singt und sich zum Schluss den Ornat vom Körper reißt, fasziniert. Als Bariton ist er stimmlich nicht passend, ist diese Partie doch für einen Tenor gesetzt. Wie er aber die Höhen durch Falsettieren gewinnt, fügt sich sehr wirkungsvoll ein, weil gerade dies der Brüchigkeit seiner Glaubenssituation entspricht. Nicht nur dadurch entsteht ein groß inszeniertes Theater, das Tom Ryser, in Basel geboren, zusammen mit der Amerikanerin Lillian Stillwell (Choreografie) mit der riesigen Zahl von Mitwirkenden auf die Bühne brachte. Beide erstaunten bereits vor zwei Jahren in Purcells „The Fairy Queen“ damit, wie sie genreübergreifend Oper und Tanz zusammenfügten. Hier gestalten vier Tänzer eine durch Spitzentanz gestisch vergeistigte Gegenwelt, die auf wirksame Weise das Spirituelle im Ritus visualisieren. Den Gegenpol bedienen die Mitglieder des Street-Chorus mit ihren Tänzen bis hin zum Break-Dance.
Fazit
Bernsteins „Mass“, eigenwillig tagesaktuell, wurde, wenn irgendwo aufgeführt, zumeist nur konzertant oder verkürzt geboten. Wie mitreißend eine szenische Realisation sein kann, beweist das Theater Lübeck mit dieser Inszenierung, die ein riesiges Aufgebot an Mitwirkenden nutzt. Inszenierung und Regie überzeugen, aber auch das stimmige Bühnenbild, das so gut wie alle Möglichkeiten der Bühnenmaschinerie gekonnt einsetzt. Der außergewöhnlich lange Beifall war berechtigt.