Am Ende steht sie einfach da: mit blütenweißem Nachthemd – obwohl sie gerade erstochen worden ist – auf wundersame Weise auferstanden von den Toten. Carmen steht einfach da. Trotzig, mahnend, einen verzweifelten Don José hinterlassend. So überraschend und auch etwas irritierend endet Georges Bizets Carmen im Theater Hagen, wo die letzte Oper des Komponisten nach gut einer Dekade mal wieder eine Neuinszenierung erfuhr.
Von Lustgipfeln und Beziehungsdramen – Bizets „Carmen“ in Hagen
Dieses Mal ist mit Derek Gimpel ein routinierter Opernregisseur am Werk, der die Geschichte weitgehend ohne inszenatorische Fisimatenten nah am Original, aber mit einigen interessanten Details auf die Bühne bringt.
Dazu gehört, dass er die Schlussszene von der Stierkampfarena ins Schlafzimmer verlegt. Der parallel verlaufende Kampf ist nur indirekt per TV-Schalte präsent. Das gehört zu den weniger einleuchtenden Details dieser Inszenierung. Auch die beiden mobilen Berge, über die im dritten Akt die Schmuggler marschieren, machen einen eher putzigen Eindruck. Wie zwei weibliche Lustgipfel thronen sie auf der Bühne, die von Britta Lammers gestaltet wurde, und fungieren mal als Versteck, mal als Berg. Die gesamte Handlung ist in einem großen Halbrund aus rostroten Platten angesiedelt, die eine passende industrielle Atmosphäre vermitteln und durch eine effektvolle Beleuchtung (Licht: Hans-Joachim Köster) mal zur Bar-Kulisse oder in besagtem dritten Akt zur mystischen Bergkulisse werden. Hier wird szenisch mit wenigen, aber gekonnt eingesetzten Mitteln viel erreicht.
Gimpels Inszenierung setzt die von Bizet ebenso heißblütig wie drastisch geschilderten Beziehungsdramen treffend in Szene. Dorothea Brandt verkörpert dabei stimmlich wie schauspielerisch als Micaëla sehr überzeugend die Unschuld vom Lande, die an ihrer kleinen, übersichtlichen Welt festhält. Melissa Zgouridi, ein wunderbarer Mezzo, ist als Carmen eine Idealbesetzung, weil sie in jeder Hinsicht unglaublich präsent ist und ihrem Charakter sehr prägnante Konturen gibt. Das gilt auch für Jongwoo Kim als Don José. Er hat eine brillante, aber noch angenehme tenorale Strahlkraft und genügend Heißblütigkeit, um den innerlich zerrissenen Liebhaber zu mimen. Er liefert die überzeugendste Vorstellung des Abends, was man von Insu Hwang als Escamillo nicht behaupten kann, der zwar schön singt, jedoch zu harmlos wirkt. Den Bösewicht kauft man ihm nur bedingt ab.
Chor, Extrachor und vor allem der ausgesprochen gut vorbereitete und wunderschön singende Kinderchor des Theaters Hagen machen ihre Sache ausgezeichnet, was gerade in den turbulenten Szenen des letzten Aktes nicht immer einfach erscheint. Da geht es auf der vollen Bühne schon recht ungestüm zu, Derek Gimpel aber hat die Massen im Griff. Das trifft auch auf Joseph Trafton zu, der das Philharmonische Orchester Hagen von Beginn an ordentlich auf Touren bringt. Vor allem die Streicher gefallen am Premierenabend, mit butterweichem Sound und schneidigem Zugriff. Bleiben noch die anderen Mitglieder des mehr als ein Dutzend Charaktere umfassenden Ensembles. Das ist auch in diesen kleineren Rollen durchweg gut besetzt. Insgesamt gelingt in Hagen eine mehr als achtbare Aufführung des oft verkitschten Carmen-Stoffs, bei dem die Beziehungsdramen im Vordergrund stehen, die Spannung nicht zu kurz kommt und die Musik in den besten Händen ist.
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