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1. Stromorchester in Magdeburg. Foto: Jan Kubon
1. Stromorchester in Magdeburg. Foto: Jan Kubon
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Von Toastern und Haydn – Das 1. Stromorchester im Rahmen des Festivals „Sinus Ton - Magdeburger Tage der elektroakustischen Musik“

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Bereits zum vierten Mal findet dieses kleine aber sehr ambitionierte und ungewöhnliche Festival in Magdeburg statt. Erstmals in der Festivalgeschichte widmet es sich mit Frankreich einer Region und seiner elektroakustischen Musiktradition – das ist neu!

Der künstlerische Leiter des Festivals, Oliver Schneller, erläutert den Kerngedanken dieser konzeptionellen Erweiterung wie folgt: „In den letzten Jahren haben wir immer ein historisch wichtiges elektroakustisches Instrument in den Festivalmittelpunkt gestellt. Im letzten Jahr war das  zum Beispiel das Pianola. An dieser Tradition wollten wir auch unbedingt festhalten und mit dem Ondes Martenot haben wir uns für ein Instrument aus Frankreich entschieden.“

Frankreich gilt als eines der Pionierländer der elektroakustischen Musik. Und der Umstand, dass mit dem 50jährigen Jubiläum der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages zudem in diesem Jahr noch ein zeitgeschichtliches Ereignis stattfand, das sich mit dem ausgewählten Festivalinstrument hervorragend verbinden ließ, veranlasste die Festivalmacher, ihre Veranstaltungen mit dem Motto „Frankophon“ zu überschreiben.

Eines herauszustellen, ist dem Kuratorium wichtig: Die Unterscheidung zwischen elektronischer Musik, wie sie zum Beispiel durch analoge Klangerzeuger (Synthesizer) oder mit Computern emulierte Instrumente erzeugt wird und elektroakustischer Musik.

Elektroakustische Musik umfasst das gesamte Spektrum elektrischer Klanggenerierung durch Maschinen bis hin zur künstlerischen Nutzung von Klängen musikferner, elektrischer Geräte wie Staubsauger oder Föne.

Vermittlungsarbeit

In Workshops bietet das Festival interessierten Schülern die Möglichkeit, ihr Wissen um vorelektronische Klangerzeugung zu erweitern, respektive sie für die Klangwelt der Elektroakustik zu begeistern. So bot der Workshop „Kleines Stromorchester“ Einblicke in die Welt der Klangerzeugung durch Geräte aus Garage, Garten und Haushalt. Unter der Leitung von Rochus Aust erlebten die Schüler, wie aus oft störenden, monotonen Geräuschen unserer Küchenhelfer Soundstrukturen und Harmonien entstehen können.

Wie klingt mein Toaster?

Mit dem 1. Deutschen Stromorchester des Kölner Performance Künstlers, Komponisten und Trompeters Rochus Aust gelang dem Kuratorium die Verpflichtung eines weltweit einzigartigen Klangkörpers, das den Spagat zwischen Klassik und Moderne, zwischen „U“ und „E“  bravourös beherrscht. Im geschichtsträchtigen Haus der ehemaligen Kunst- und Handwerksschule in Magdeburg fanden die Festivalmacher einen idealen Raum für die Uraufführung der 3. Sinfonie – der „Sinfonie mit der Sinfonie mit dem Paukenschlag featuring Joseph Haydn“ in der Bearbeitung für Stromorchester mit Theremin-Cello.

Schon beim Betreten des Raumes wurde klar, dass dieser Abend ein Abend des Crossovers, des Experimentierens und der klanglichen Neuentdeckungen wird. Die Anordnung der Zuschauerplätze, die abwich von den Regeln klassischer Konzertkultur, unterstrich diesen Eindruck. Die Konzertbesucher nahmen im Klangzentrum Platz. Begrenzt wurde der „Zuschauerraum“ durch vier grell-gelb verkleidete Pulte, die in den Ecken platziert waren.

Erfreulicherweise reichten die bereitgestellten Stühle nicht aus, so dass einige Besucher auf den Treppen des historischen Aufganges Platz nehmen mussten. Auf den Pulten fanden sich Toaster, Mixer, Saftpressen, Stichsägen, Laubbläser, Plattenspieler, Föne, Wasserkocher und Tischtennisschläger und -bälle und warteten darauf, getunt, gedimmt und benutzt zu werden. Auch konventionelle Instrumente wie eine Trompete oder eine Lapguitar sollten zum Einsatz kommen. Das Soloinstrument der Sinfonie wechselt von Aufführung zu Aufführung, wodurch jedes Konzert zu einer Uraufführung wird.

Dieses Mal war es das Theremin-Cello. Ein Instrument, das eine Erfindung des russischen Physikers Leon Theremin ist und von dem es weltweit nur wenige Exemplare gibt. Solist des Abends war der US-Amerikaner Jonathan Golove. Der studierte Cellist, Arrangeur und Komponist ist einer der führenden Experten auf diesem Instrument.

Die Sinfonie mit der Sinfonie-mit-dem-Paukenschlag

Nach einer kurzen Konzentrationsphase begannen die vier Musiker mit dem 1. Satz, dem „Schlag ohne Bezeichnung“. Der führte in die Klangwelt des Ensembles ein. Auf Tischtennisschlägern, die mit Tonabnehmern verbunden waren, ließen die vier Akteure Bälle springen. Der sich aufbauenden rhythmischen Verdichtung folgend, agierte Golove an seinem Theremin-Cello punktiert und sparsam, aber stets präsent.

Der 2. und 3. Satz - „langsam (fl)“ und „Geldmusik/schneller“ – nahmen die Zuschauer immer weiter mit in die Klang- und Ideenwelt des Ensembles, das in der Klangregie  von Markus Aust wunderbarste Sound- und Rhythmikstrukturen voller Spannung und Dramaturgie erzeugte. Im 4. Satz - „frei“ - schwang sich das Ensemble zu einer geschmackvollen Klangkakophonie mit leuchtenden Soundakzenten auf, dabei mitreißend und überaus spielfreudig agierend. Manche Passagen erinnerten an Jean Michel Jarre und Klaus Schultze in ihren besten Tagen.

Der klassischen Struktur einer Sinfonie folgend, lieferte der 5. Satz - “immer schneller“ mit seinen Staccati und gewaltigen Klangformationen im Tutti den vorläufigen Höhepunkt des wirklich unterhaltsamen Abends, bei dem der Zuschauer oft gar nicht wusste, welchem Sinnesreiz er zuerst folgen sollte. Dem Sehen oder dem Hören? Der 6. Satz – „furioso molto possibile“ – beendete das Konzert. Den Geräten aus Garten, Garage und Haushalt wurde noch einmal alles abverlangt. Ganz großartig war, wie das Ensemble mit den „Instrumenten“ umging. Laubsauger spielten tieffrequente Töne, das Klicken und Schalten der Geräte und die perkussive Bearbeitung der einzelnen Gegenstände, die heulenden Luftströme der im Raum installierten Haartrockner, lieferten das rhythmische und harmonische Fundament, auf denen die mittels Radios, Plattenspielern und Laptops erzeugten Samples und Soundfetzen ihre ganze Schönheit strahlen lassen konnten.

Aber was hat das alles mit Haydn zu tun?

Rochus Aust: „Haydn überraschte sein Londoner Publikum mit immer neuen Klangfarben. Er kümmerte sich nicht besonders um Konventionen und unser Verweis auf seine Sinfonie mit dem Paukenschlag im 1. Satz und im Titel der Sinfonie ist eine Verbeugung vor dem großen Komponisten.“

Und wie einst Haydn die Londoner überraschte das 1. Deutsche Stromorchester das Magdeburger Publikum mit seiner sympathischen Spitzbübigkeit, seinem Charme und der dramaturgischen Finesse der Komposition von Rochus Aust sowie der frischen unverbrauchten Art der Performance. Das Publikum dankte Jonathan Golove, Rochus Aust, Florian Zwissler und Markus Aust mit langanhaltendem Applaus. Ein Teil des Beifalls sollte aber auch an die Festivalmacher Carsten Gerth und Oliver Schneller gehen, denen es mit der Verpflichtung des Stromorchester gelang, einen weiteren Höhepunkt im Kulturkalender der Landeshauptstadt zu markieren. Jan Kubon

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