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Michael McCown (Beamter), Kurt Streit (Michel) und Nina Tarandek (Hotelboy). Foto: Barbara Aumüller
Michael McCown (Beamter), Kurt Streit (Michel) und Nina Tarandek (Hotelboy). Foto: Barbara Aumüller
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Von unser aller Traum-Frau – Bohuslav Martinůs selten gespieltes Musikdrama „Juliette“ an der Oper Frankfurt

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Paris in den 1920er Jahren – das war auch für den 1890 geborenen Tschechen Bohuslav Martinů der Lebens- und Schaffensmittelpunkt. Dort nahm er alle künstlerischen und intellektuellen Innovationen begeistert auf. Dort sah er das von phantastischen, surrealen und skurrilen Elementen durchzogene Schauspiel „Juliette ou le clé des songes“ des Franzosen Georges Neveau – gleich mehrfach und formte es enthusiastisch selbst zum Opernlibretto um. Das 1938 in Prag erfolgreich uraufgeführte Werk geriet dann durch den 2.Weltkrieg in Vergessenheit und taucht seither nur selten in den Spielplänen auf – so jetzt als Frankfurter Erstaufführung an der dortigen Oper.

Immer wieder flirrend und irisierend klingt Martinůs Musik, passend zu einem Traumspiel – einem der besonderen Art: Der nicht mehr ganz junge Buchhändler Michel hat drei Jahre vor der Bühnenhandlung in einem kleinen namenlosen Städtchen das Lied einer jungen Frau gehört. Die Bezauberung hat angehalten und so kehrt er jetzt dorthin zurück. Doch so wie schon das „Hotel du Navigateur“ seinem Namen nicht gerecht wird, so anfangs seltsam, bald zunehmend befremdlich und schließlich aus aller Realität ent-, ja „ver–rückt“ sind der ganze Ort, seine Bewohner und die Umgebung: das Städtchen ist von Wald umgeben – und dennoch fahren Schiffe ab; die Menschen haben keine Erinnerung an die eigene Vergangenheit; sie gieren nach Michels kleinen Geschichten, halten sie für eigene – und haben sie kurz darauf vergessen; dennoch wird Michel zum Kapitän der hafen- und bahnhoflosen Stadt ernannt; er hört Juliette erneut singen und trifft sie im geisterhaften Wald; beider Liebe flammt auf, doch kurz darauf hat sie alles vergessen und stößt ihn zurück.

In den zwei Akten bis dahin hat Martinů viele geistige und künstlerische Errungenschaften seiner Zeit genutzt und vermischt: Freuds Traumdeutung, die naturwissenschaftliche Infragestellung von Zeit und Raum, den Surrealismus, Kafkas gespenstische Realitäten und natürlich die tschechische Begabung für „Spintisierereien auf dem Theater“. Angesichts unserer heutigen „virtuellen Realitäten“ wirkt einiges im Werk und prompt auch in der Aufführung ein bisschen schlicht, ja überholt. Doch Martinůs „Juliette“ gehört zu den eher seltenen Werken, die im dritten Akt überraschen und einen Horizont eröffnen, der berührt: Michel findet sich im „Zentralbüro der Träume“ wieder; er erlebt, wie sich andere hier bei einem überaus korrekten Beamten ihre speziellen Wunschträume abholen – ein kleiner Junge jagt als Buffalo Bill Indianer; ein Blinder hat seinen Termin „übersehen“ und muss bis nächste Woche auf „das Meer sehen“ warten; der Sträfling wünscht sich eine Riesenzelle ohne Gitterstäbe undundund … Michel wird gewarnt, nicht in dieser Traumwelt zu bleiben – doch da hört er wieder Juliettes Lied…

Martinůs Musik erweitert zwar die Harmonik, bleibt aber tonal, klingt nach einem Zeitgenossen von Debussy, d’Indy, Poulenc und auch mal Janáček – aber durchweg reizvoll eigenständig. Das machte Sebastian Weigle mit dem Frankfurter Museumsorchester in vielen Schattierungen und den rhythmischen Raffinessen der Partitur hörbar. Inmitten eines exquisiten Ensembles, das in verschiedene, skurril hübsche Rollen schlüpfte, war Juanita Lascarro eine wirklich verführerische Juliette. Doch einen tosenden Bravo-Sturm heimste Kurt Streit als Michel ein: Regisseurin Florentine Klepper zeigte ihn mit ihrem Bühnenteam als feschen, nach Lebensglück suchenden Mann von Heute. Erstaunt sahen er und das Publikum in die sachlich banale Hotelhalle einen Dschungel (Bühne: Boris Kudlicka) hereinwuchern, in dem er sich mit Juliette wie in einem Liebesgarten zunächst amourös verirrte – aber doch auch scheiterte. Viele seiner Kontakte und Handlungsversuche laufen ins Leere.

Die schönste Regie- und Bühnenerfindung stand dann am Ende: dass nämlich das Traumbüro die Wünsche Wirklichkeit werden lässt - hinten, auf einer zweiten Theaterbühne! Und genau dorthin folgte Michel den Rufen Juliettes als Finale. Mit Theaterkunst sich einer zunehmend geschichtslos vergessenen, schnöden Realität entziehen – da traf ein Werk des Jahres 1938 emotional wie intellektuell anrührend mitten in unser Leben des Jahres 2015.

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