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Musiktheater: ANTHROPOSCENE, How to Talk to Clouds. Foto: © vanloon
Musiktheater: ANTHROPOSCENE, How to Talk to Clouds. Foto: © vanloon
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Von Weltrettern und einem fatalen Marsch – Das Stuttgarter Festival Eclat 2018

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Prima la musica, poi le parole, das Verhältnis von Musik zu Wort und umgekehrt ist beim Stuttgarter Festival Eclat schon immer auf besondere Weise ausgelotet worden. Auch der Jahrgang 2018 ist wieder ein Gradmesser dafür, was Komponisten heute umtreibt, und das sind neben den Möglichkeiten, die ihnen das Klavier des 21. Jahrhunderts bietet, also die Musik aus und mit dem Laptop, vielfach Themen aus dem menschlichen Alltag.

„Daily Transformations“, tägliche Wandlungen, nannten folgerichtig der österreichische Komponist Clemens Gadenstätter, die Video-Regisseurin Anna Henckel-Donnersmarck und die Autorin Lisa Spalt ihre „belebte Installation“. Sie gestalteten eine Architektur aus Instrumenten und drei Leinwänden, die von den Instrumentalisten des Ensembles asamisimasa und dem wie immer virtuosen Zentralensemble des Festivals, den Neuen Vocalsolisten, bespielt wurde.

Startimpuls für großes Musiktheater

Ein Riesentext von Lisa Spalt wird zum Startimpuls für großes Musiktheater. Das vielgestaltige Werk wurde zusammengehalten von Bas Wiegers am Pult – gestalten durfte aber nicht nur er. Über das hinaus, was in ihrer Partitur fixiert war, griffen auch die Vokalisten mittels Pad ins Geschehen ein: Aus Lesung, Musiktheater und Bewegtbild entstand ein wie lebendig wirkender und wuchernder Klangorganismus, in dem Sprache, Bild und Musik, Komposition, Improvisation und Interpretation samt deren Weiterverarbeitung durch die Klangregie von Maurice Oeser engstens miteinander verwoben wurden.

Große Gesten auch bei dem Musiktheater „Anthroposcene – How to talk to clouds“. Der junge französische Komponist Laurent Durupt erschuf mit einem Echtzeit-Klangsystem eine Musik, die aus allem – angefangen bei den Geräuschen aus dem Publikum, dem Husten, Räuspern, Rascheln, bis hin zu gesprochenen Texten und geräuschhaft und „echt“ gespielten Instrumenten – Musik machte. Mit seiner Software kreierten Durupt und Computergrafiker Fabian Offert ebenfalls in Echtzeit prismenartige Video-Projektionen, deren Entstehen und Vergehen sich in atemberaubenden Tempo abspielte.

Doch von Anfang an: Alles begann scheinbar harmlos mit dem Charme einer Oberstufen-Theater-AG. Aus dem Bühnenaufbau wurde Theater, aus einer als Film eingespielten Sitzung des EU-Parlaments in Straßburg zum Thema Klimawandel wurden Klänge generiert – auch hier in Echtzeit. Doch der kunstvolle Bühnenaufbau wurde in bester Fluxus-Tradition lustvoll wieder demoliert, und als Fazit stand plakativ die Botschaft: Die Zerstörung unserer Welt hat schon längst begonnen – Donald Trump ist bestenfalls noch ein Vollstrecker im Knallchargenformat. Das Werk war ein bewusster Affront gegenüber dem Neue-Musik-Publikum, das mit dieser musikalischen Vorlesung über das vom Menschen als Tragödie verfasste momentane Erdzeitalter, die in einer Orgie aus Gewalt und Lärm mündete, nichts anzufangen wusste.

Raffinesse, Klangkultur, Abwechslungsreichtum

Doch Versöhnung war bereits programmiert: Der jungen französischen Avantgarde hatte Festivalleiterin Christine Fischer einen Meister des Spektralismus, Tristan Murail, gegenübergestellt. Sein achtteiliger Zyklus „Portulan“ riss die Zuhörer hin durch Raffinesse, Klangkultur, Abwechslungsreichtum und eine exzellente Wiedergabe durchs Ensemble I’Itinéraire unter Mathieu Romano. In seiner farbenreichreichen Suite überzeugte Murail durch die Kombinatorik der Besetzung. Vordergründig reine Instrumentalmusik, zählt auch Murails Zyklus zur Gattung außermusikalisch inspirierter Klangkunst und fügte sich so nahtlos ins Programmkonzept. Portulan stellt einen alten, reich bebilderten Seeatlas dar, und ist gleichzeitig eine Art „metaphorische Autobiographie“ Murails, bei der sich jedes der acht Stücke – zwölf sollen es einmal werden – auf einen Ort, eine Reise, einen Text oder ein Erlebnis des Komponisten bezieht.

Kein Eclat ohne Installationen und Performance: Raphael Sbrzesny ließ das Publikum ratlos durch seine Klangstationen „Principal Boy“ wandern – es war die einzige Aufführung in einer Turnhalle und die an Donaueschingen erinnernde Raumsituation war gewissermaßen ein Paradox, denn kein anderes Festival hat mit den Raummöglichkeiten im Stuttgarter Theaterhaus bessere Spielstätten als Eclat. Während Marianthi Papalexandri-Alexandri in Donauescheingen noch vor wenigen Monaten mir ihren Klangskulpturen für Furore gesorgt hatte, blieb ihre Stuttgarter Performance „Distanz“ etwas hinter den Erwartungen zurück. Da das Stück für präpariertes Cello als Aufführung und nicht als Installation gestaltet war, störten einige Längen. Die Cellistin Séverin Ballon lotete meisterhaft einen Klangkosmos zwischen piano pianissimo und – hier dann beinahe brachial wirkendem -  mezzopiano aus.

Neben diesen Performances und einer wie immer klugen musikalischen Vorlesung des Konzeptkomponisten Johannes Kreidler mit dem Titel „Infinissage“ gab es auch reine Instrumentalmusik ohne oder mit wenig Bild und Zuspielanteil. Hervorzuheben wäre hier „Sights of Now“ von Zeynep Gedizlioglu, für zwei Klaviere und Streichquartett, das man sich am liebsten als „zweimal gespielt“ gewünscht hätte, oder im selben Konzert mit dem Diotima Quartett und den Pianistinnen Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi, das Stück „Doublet“ der japanischen Komponistin Tomoko Fukui. Grotesker Höhepunkt des Konzerts: die deutsche Erstaufführung der Klavierfassung (2016) von Helmut Lachenmanns „Marche fatale“durch Yukiko Sugawara, dessen neue Orchesterversion als Online-Clip Anfang des Jahres für überraschend hohe Clickzahlen auf der Webseite des Verlags Breitkopf & Härtel gesorgt hatte. Die Provokation war Lachenmann gelungen, obwohl dem Zuhörer nie ganz klar wurde, ob er hier einem musikalischen Spaß beiwohnte oder einer Musik der reinen Verzweiflung. Die Zugabe hatte der „Konzeptkünstler“ gleich mitkomponiert: „Berliner Luft“.

  • Eine ausführliche Kritik, in der auch das Hauptkonzert des Samstagabend mit dem Calefax Reed Quintet und die Konzerte von SWR Chor und dem SWR Symphonieorchester rezensiert werden, lesen Sie in der Märzausgabe der neuen musikzeitung.

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