Ein Flucht-Werk. Denn 1775, inmitten virulenter Krisen des Absolutismus und einem guten Jahrzehnt vor der großen Revolution, nahe Paris über das Verhältnis von Wort und Ton in der Kunst zu diskutieren, geistreich, ironisch sich selbst bespiegelnd – das war genauso wirklichkeitsfremd, wie sich jahrelang vor der Uraufführung 1942 mit den gleichen Problemen zu beschäftigen, jetzt schon von nächtlichen Bombenangriffen tödlich bedroht. Richard Strauss ließ das Werk mit einem Fragezeichen enden. Brigitte Fassbaender wurde konkret.
Alles begann mit einem wunderbar gemalten, rot-goldenen Theatervorhang, wie er im Ancien Regime vor der Bühne eines Privattheaterchens in einem gräflichen Schloss nahe Paris gewallt haben mag. Dazu erklang mit kammermusikalischer Raffinesse das Streichsextett aus dem Orchestergraben. Der Vorhang hob sich und gab den Blick in einen bühnengroßen Wintergarten mit einer kleinen Bühne frei. An den Seiten standen einige alte Kulissenteile. An dem Cembalo links dirigierte Jung-Komponist Olivier engagiert nervös den zweiten Satz seines der Gräfin gewidmeten Sextetts mit, das Musiker hinter den leicht vereisten Scheiben in einem Nebenraum spielten, während Dichter Flamand in einem Gartensessel seine Liebe zur gleichen Frau in ein Sonett fasste. Dazu breitete GMD Sebastian Weigle mit zwar groß besetztem Frankfurter Museumsorchester zunächst den mal fein gesponnenen, mal plänkelnden Konversationston der Partitur aus. Doch als beiden Künstlern klar wurde, dass sie über die Verkörperung von „Wort“ und „Ton“ hinaus „verliebte Feinde“ und „freundliche Gegner“ bezüglich Gräfin Madeleine sind - da ließ Weigle die Emotionen hoch aufschäumen.
Viel von der reifen Meisterschaft des Komponisten wurde hörbar: Wenn zur Klage über die Unverständlichkeit des Textes in der Oper das Orchester lärmte, wenn zum Streit um die Gluckschen Opernreformen der neue Ton zitiert wurde, wenn zur Geringschätzung von Italianitá und Belcanto Rossini-Anklänge spotteten und Mozart-Raffinessen die wahren Gefühle umspielten. All das gelang, weil Alfred Reiters Theaterdirektor La Roche die Pragmatik des souveränen Impresario gekonnt verkörperte, ihn dabei berechnend umspielend die zwischen klassischen Spitzen-, zeitgenössischem Ausdrucks- und Revuetanz changierende Tänzerin Katharina Wiedenhofer.
Dem jugendlichen Grafen Gordon Bintner glaubte man die baritonale Lust aufs Abenteuer mit der lebenserfahrenen Star-Schauspielerin Clairon von Tanja Ariana Baumgartner. Ihre mit Knalleffekt beendete Affäre mit Dichter Olivier machte Daniel Schmutzhard mit markanten Bariton-Tönen verständlich. In fabelhaftem Kontrast dazu konnte AJ Glueckert beweisen, dass sich die von Tenor-Hasser Strauss gezielt heikel hoch gelegten Liebesphrasen des gefühlvoll glutenden Musikers Flamand strahlend hell singen lassen. In ihrer aller Mitte trat eine bildschöne, reife Frau, die dem „leicht verlieren – leicht gewinnen“ ihres jüngeren Bruders ein lebens- und liebeserfahrenes „liebend behalten – schönster Gewinn“ mit leuchtendem Sopran entgegenhielt. Camilla Nylund war zwar ohne aufgesetzte Attitüde – verwitwet und reich! - der begehrenswerte Mittelpunkt für die beiden eher bohemienhaften Künstler, doch da war mehr… und da begannen die Besonderheiten des Abends.
Die einst opernweltweit geschätzte Strauss-Interpretin und Clairon-Sängerin Brigitte Fassbaender führte vor, dass trotz und gerade in krisenhafter Situation im privaten „Fluchtraum“ eines Schlosses Kunst wie Leben kapriziös, mit floretthafter Leichtigkeit ironisiert werden. Da tollte der kleine Sohn des sehr profiliert gezeichneten Haushofmeisters mit Kriegsspielzeug herum und ahmte die „grandiose“ Armgeste des italienischen Tenors als „Deutschen Gruß“ nach. Da wurden kämpferische Kunst-Thesen mit ironischen Gesten kommentiert. Olivier leidet sogar an einer Blumen-Allergie und „muss“ in den Vortrag seines vertonten Sonetts hinein nießen. Die klassizistische Sprechszenen-Probe zwischen der Berufsschauspielerin und dem imponiersüchtigen Grafen geriet zur Schauspiel-Groteske.
Wirkte der kleine Spielzug, dass einer der Kammermusiker dem Komponisten verwirrt sein Notenblatt hinhält und dieser ihm zeigt, dass er es umdrehen muss, zunächst gewollt, so wurde im Oktett der Bediensteten plötzlich klar: in den Geigenkästen waren Waffen – das waren weder Musiker noch Domestiken. Als La Roche per Dia-Projektor die Dekorationen seiner Festaufführung zum Geburtstag der Gräfin, den „Untergang Carthagos“ vorführen ließ, erlitt der Projektor einen Defekt – und zeigte plötzlich Bombenkriegsbilder der 1940er Jahre, die schließlich den ganzen Raum fluteten. Der so gar nicht alt und tattrig, sondern scharfkantig zwiespältig gezeichnete Souffleur Taupe von Graham Clark fand ein solches Dia später am Boden, steckte es ein und ging sehr zielstrebig ab: Kombattant oder Denunziant? Der von Anfang an hintergründig wirkende Haushofmeister von Gurgen Baveyan hatte befremdlich engen Kontakt zur Gräfin: er legte ihr ein illegales Plakat vor, das den Franzosen „Liberation“ verheißt, das sie beide versteckten – und betonte später das Wort „Souper“ so ganz besonders… es war auch in den Übertiteln in Anführungszeichen gesetzt…
All das gipfelte nach der delikat musizierten „Mondscheinmusik“ mit theatralisch feinem Lichtspiel auf dem gemalten Theatervorhang in einer grandiosen Schlussszene. Da hat Strauss ja der allein zurückgebliebenen Gräfin eine fast zwanzigminütige Soloszene für die von ihm so geliebte Sopranstimme komponiert. Sie schwelgt noch einmal mit dem gesungenen Sonett in der Liebe von Wort-Olivier und Ton-Flamand. Sie sieht sich selbst unentschieden: „Du wolltest mit der Liebe paktieren, nun stehst du selbst in Flammen und kannst dich nicht retten“… sie fragt auch, wie der Schluss der neu geplanten Oper sein könnte. Dazu hatte sich der Theatervorhang geöffnet und Ausstatter Johannes Leiacker gab einen atemberaubenden neuen Blick frei. Der zuvor bühnengroße Wintergarten war bis „ins Unendliche“ verlängert, die kleine Bühne ganz hinten in illusionäre Ferne gerückt. Dort hinten stand auch die Gräfin in einem fabulös breiten Verdugado-Kostüm, löste sich aus dieser theatralischen Illusion langsam nach vorne, wendete alles hin und her; auf ihre Textfrage nach einem „nicht trivialen“ Ende und der doppelbödigen Meldung des Haushofmeisters „das Souper ist serviert“ wurde stupend klar: das war eine kodierte Meldung – die Gräfin stieg aus dem „Kostümbau“ aus, setzte eine Baskenmütze auf, zog den graugrünen Mantel einer unscheinbaren Resistance-Kämpferin an, umarmte ihre ehemaligen Domestiken als Kombattanten und ging mit ihnen und dem Haushofmeister in eine dunkle Zukunft, in das womöglich tödliche „Zwischen-zwei-Feuern-Verbrennen“ davon.
Kein triviales, aber wie im Rokoko-Original ein offenes Ende für ein „Flucht-Werk zwischen 1775 und 1942“… Ein vermeintlich nur rückwärtsgewandter Klassiker hatte dank werkgerechter Neu-Interpretation wieder einmal seine Lebenskraft für Hier und Heute bewiesen - das beeindruckte Premierenpublikum blieb lange sitzen und stimmte mit ungetrübtem Beifall und Jubel zu.