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Wurde zum „Hit“ der Donau- eschinger Musiktage 2019:  Simon Steen-Andersens para-dadaistische Provokation „Trio“ als Zusammenführung der drei großen SWR-Klangkörper Orchester, Chor und Big Band. Foto: SWR/Ralf Brunner
Wurde zum „Hit“ der Donau- eschinger Musiktage 2019: Simon Steen-Andersens para-dadaistische Provokation „Trio“ als Zusammenführung der drei großen SWR-Klangkörper Orchester, Chor und Big Band. Foto: SWR/Ralf Brunner
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Vor- und rückwärts im Nicht-Gleichschritt

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Zu den Wechselbädern der Donaueschinger Musiktage · Von Gerhard R. Koch
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Kommt man zurück aus Donaueschingen, so erwarten einen oft die obligaten Fragen: Was gab es Neues, was war das herausragende Werk, wofür steht es, wie wird es weitergehen, wohin führt langfristig die Entwicklung? Und skeptisch wird man beäugt auf die Antwort hin: So einfach ließe sich das nicht sagen, Prognosen, gar Prophezeiungen blieben allemal riskant. Zudem: Noch in den Achtziger Jahren gab es Berichte über Donaueschingen, auch die Film-Festivals in Cannes oder Venedig, bei denen ein Werk als epochal herausgestellt wurde, die anderen mehr oder minder Beiwerk waren. Derlei hatte den Vorzug der Entschiedenheit – auf Kosten perspektivischer Verengung.

Nun wiederholt sich Geschichte nicht, zumindest nicht so plan. Doch der Retro-Charakter ist derzeit evident: Make America great again, Hymnen auf das Türken-, Polen-, Ungarntum, „Einiges Russland“ und das Phantom neuer britischer Glorie – die Vergangenheit rangiert höher als die Zukunft. Insofern hat auch die Frage: „Was heißt Fortschritt?“ ihr Chimärisches. Wo „vorn“ ist, bleibt offen, was rückwärts gerichtet zwar eindeutiger, indes keineswegs unstrittig. Zumal der jüngste Donaueschingen-Jahrgang durchaus an einen historischen Eklat erinnerte. 1958 wurden Henzes „Nachtstücke und Arien“ uraufgeführt: Und Boulez, Stockhausen und Nono (damals noch einig) verließen demonstrativ den Saal, skandalisierten den Sündenfall lyrischen Wohllauts. Das alte Avantgarde-Pathos, dessen Radikalität nicht gar so monolithisch war, ist dahin. Dennoch irritiert, wie wenig gebrochen Gefühle, Stimmungen, nostalgische Hüllkurven und Anspielungen derzeit wieder nachkomponiert werden, aber auch ehrwürdige Tradition erfrischend vom Witz befallen wird.

Tabubruch Vergangenheit

Eine Art divergierenden Dreizack bot denn auch das Eröffnungskonzert, indem es den Umgang mit Vergangenem gleich mehrsträngig thematisierte; zunächst als Tabubruch. Nicht zufällig hatten Webern wie Boulez ein Faible für die Musik von Mittelalter und Renaissance, der mit der Kategorie „Ausdruck“ oft kaum beizukommen ist, hermetischer Strukturalismus dominiert. Glück, Trauer, Begeisterung waren denn auch den Verfechtern strenger Material-Regularien als Relikte bürgerlicher Sentimentalität suspekt. Aber schon in Rossinis „Barbiere“ nervt Almaviva den Bartolo durch unaufhörlich leierndes „pace, gioia, gioia, pace“: Friede wie Freude einzig als Paternoster-Karikatur. Matthew Shlomowitz unternimmt es, Glück und Freude aus dem Orchester-Fundus zu revitalisieren, greift voll in die Kiste emphatischer Klang- und Bewegungs-Klischees. Das hat Schwung und Schmelz, evoziert vielerlei sinfonische Happy, happy-Topoi, ist auch nicht ohne Ironie dabei; aber die satirische Entlarvung solch überbordend guter Laune bleibt doch aus. In ganz anderer Weise beschwört Michael Pelzel historische Klang-Aura: Die Glocken im indischen Benares/Varanasi haben es ihm angetan. Aber er belässt es nicht beim Zitieren, Montieren dröhnend, bimmelnder Metall-Spektren: Ihm gelingt es, das Sakral-Instrument elektronisch so zu transformieren, dass der historische Erinnerungs-Wert zu virtuellen Glissando-Welten mutiert: Vision eines Geläuts, das es so nicht gibt. Indien-Assoziationen klingen zwar an, aber so transformiert, dass der Eindruck bloßer Exotismus-Anleihen gerade nicht entsteht. Einem historischen Genre („The bells“) wird zwar Tribut gezollt, ohne in die Falle eines eher dekorativen Illusionismus zu stolpern.

Zum „Hit“ des Festivals wurde der dritte Rückgriff auf die Vergangenheit des real existierenden Archivs, sogar mit regionalem Bezug, nämlich auf das des SWR. Simon Steen-Andersens multiple Ästhetik, auch für para-dadaistische Provokationen gut, nimmt „Trio“ wörtlich: als Zusammenführung der drei großen SWR-Klangkörper Orchester, Chor und Big Band. Genau genommen müsste es „Quartett“ heißen, kommt doch die Video-Reminiszenz ans frühe Fernsehen entscheidend hinzu. Herausgekommen ist dabei ein hochvirtuos-witzig durchstrukturiertes Puzzle aus Filmaufnahmen des Orchesters mit den Dirigenten Celibidache, Solti, Carlos Kleiber, Fricsay und Scherchen, auch der Jazz-Granden Duke Ellington oder John Lewis (Modern Jazz Quartett) – mit allerlei Slapstick-Repetitionen, etwa eines Pultstar-Auftritts mit Tusch. Die Tonfolgen sind punktgenau getimt. Es ist eine bewegende Hommage an eine bedeutende Vergangenheit; Gott sei Dank unter Verzicht auf raunende Heile-Welt-Beschwörung, stattdessen mit freundlicher Ironie durchschossen. Mit „Avantgarde“ strengerer Observanz hat die Musik wenig zu tun, doch die Schnipsel-Dramaturgie von Bild und Ton ist entschieden neuartig, auch in der Mischung aus Ehrfurcht und leiser Despektierlichkeit. Dass man während der drei Tage mehrfach an Mauricio Kagel denken musste, war alles andere als Zufall. Dessen Dekonstruktivistisches, ja Destruktives blieb allerdings aus. Dass der Preis des SWR-Orchesters an „Trio“ ging, leuchtete ein, auch als Absage an humorlose Prinzipien-Gläubigkeit. Die gute Laune, mit der man die Halle verließ, hatte freilich auch ihr Beunruhigendes.

Hatte gerade Kagel später proklamiert: „Mein Metier ist die Tradition“, so fühlte man sich auch beim Schlusskonzert daran erinnert, sogar im audiovisuellen Nachwirken, jedoch im Sinne experimenteller Geräusch-Musik nach Kagels einstiger „Schall“-Art. Eva Reiters „Wächter“ nämlich verlangen ein „Rohrorchester“: Die SWR-Instrumentalisten haben Plastik-Rohre zum Hineinblasen, aber auch durch die Luft schwingen, was einen zart melancholischen Schwirr-Klang, fast à la Äolsharfe, ergibt, während die Armbewegungen schier choreografisch an Windpark-Rotoren erinnern. Manche Empörung, dass Orchester-Profis solcherart Geräte zu bedienen hatten, verriet konservatives Sparten-Denken. Reiters Hauch-Klänge hallten weiter als große Sound-Gesten.

Aber auch tradierte Orchestersprache kann Neues bringen. „Klangor“ der Polin Lidia Zielinska bezieht sich auf den „Klang“ der Kraniche und evoziert eine, obschon verhaltene, lugubre Grundstimmung im Sinne der polnischen Schwermut „Zal“. Emotionales scheint wieder auf, ohne in den Verdacht des Reaktionären zu kommen. Saed Haddad nennt sein Stück dezidiert „Melancholie“ im Rückblick auf Dürers Bild. So wirkte es als programmatischer Gegen-Entwurf zum anfänglichen „happy, happy“-Gestus, also auch als Einspruch gegen eine allzu munter anti-elegische Tendenz. Auch Haddads Orchester ist dunkel getönt, aufgehellt indes durch die Mundharmonika; was allerdings gefährliche Assoziationen an Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ mit dem Soundtrack Ennio Morricones weckt, den gerade Lachenmann verehrt. Jürg Freys „Elemental Realities“ wird durch wohlige Statik bestimmt, liegende Klänge mit wenigen Noten, ohne dass die Dialektik von innen und außen, Ruhe und Bewegung wirksam geworden wäre.

Der Rückblick dominierte auch sonst mehrfach. Ob dies schon einen entscheidenden Paradigmenwechsel bedeutet, bleibt abzuwarten. Man kann dies auch als Abkehr vom hermetischen Struktur-Denken sehen, als Absage ans Tabu über Ausdruck, Erinnerung, Realitäts-Partikel.

Paradigmenwechsel?

Verdrängtes wird wieder zugelassen. Gordon Kampe etwa rekurriert in „Remember Me“ auf alte Fotos und Musik-Erinnerungen, collagiert Schlager und Kinderlieder in einem lokalen Hörbild einer Epiphanie des Vergessenen, hochkulturell Verdrängten. Ein tönender Schwarz-Weiß-Film, leicht depressiv im Gegensatz zum quirligen „Trio“. Nicole Lizées „Sepulchre“ wird vollends zum Schwanengesang defekter Elektro-Geräte, zur Musik derangierter Roboter, analog zu Steven Spielbergs „Artificial Intelligence“. „Vergänglichkeit“ scheint derzeit attraktiver als Fortschritts-Optimismus. Und die „objets trouvés“ werden signifikanter. Pierre-Yves Macés „Rumorarium“, Nachhall vielleicht von Cages „Roaratorio“, lässt die Stimmen und Geräusche der Großstadt fragmentiert auftauchen, als Wirklichkeits-Partikel im Kunst-Ganzen aufgehen.

Johannes Boris Borowski nennt sein Werk „Allein“, bekennt sich damit nicht nur zum kreativen Narzissmus, sondern auch zu dessen mythischem Spiegel-Bild. Und wagt somit einen entscheidenden Tabu-Bruch: So wie postmoderne Architektur wieder die Säule rehabilitierte, so verfällt er aufs uralt-verpönte Echo-Prinzip: Klarinette „antwortet“ Bratsche, Posaune zwei Hörnern. Derlei Retro-Praktiken hätten vor nicht allzu langer Zeit unwilliges Staunen ausgelöst. Nun wird Echo wieder zur zitierbaren Facette. Dem Grund-Dilemma entrinnt man nicht: Leicht ist es, allfällige Beliebigkeit zu diagnostizieren. Doch asketischer Dogmatismus will auch nicht mehr verfangen. Im Falle von Beat Furrers Klarinetten-Konzert muss die Frage offen bleiben: Er war mit der Partitur nicht fertig geworden, so dass nur ein erster Teil gespielt werden konnte, der allerdings fast als Intrada, quasi Buffa-Ouvertüre wirkte, mit vielen quirlig huschenden Floskeln, mitunter fast in Sciarrino-Nähe, aber auch Skalen-Rastern. Der Film-Theoretiker Siegfried Kracauer attestierte dem Kino als womöglich jüngster wie letzter Kunstgattung die Fähigkeit, bei aller Sublimierung „physische Realität“ bewahrend zu retten. In einigen Hörbildern tauchte dies immerhin als Tendenz auf.

Raum-Erkundung

Wo aber blieb die primär an Material-Strukturen ohne historische Unterfütterung und Anspielungen orientierte Avantgarde? Zwei Orchesterwerke standen exemplarisch unterschiedlich für ein Komponieren, das ausschließlich auf den immanenten Hör-Prozess zielt: Alberto Posadas’ ausgedehnte „Poética del espacio“ erkundet, ohne Live-Elektronik!, den Raum, fächert den Klang, zumal der Bläser, mikrotonal auf, sublimiert ihn sogar mittels der Glasharmonika und lässt mit seltener Deutlichkeit die Sonoritäten hin und her wandern.

Ein Problem indes sei nicht verschwiegen: Der Faktor Interpretation ist auch in Donaueschingen immer prominenter geworden. Nun ist perfekte Realisation conditio sine qua non adäquater Aufführung, und das Beharren auf der Dichotomie von Wesen und Erscheinung verfiele dem Dilettantismus. Aber die Bewunderung für Power und Ausdauer des Wiener Klangforums hat zumindest das Wie gehörig akzentuiert.

Abschied, Erinnern, Versinken sind essentielle Topoi zwischen Beethoven und Berg. Und sie waren auch diesmal wieder ohrenfällig. Mark Andre allerdings ist, bei manch protestanti­scher Innerlichkeit, kein Nostalgiker, sondern sucht die Grenzen zwischen Hörbarem und Verschwinden, ja thematisiert dieses immer mehr. Sein „rwh 1“ für Streicher und Elektronik zielt denn auch gleichermaßen auf die tönende wie theologische Sphäre des Unsichtbarwerdens, bis zum ppppp-Schluss. Dabei ist das Stück nicht nur ätherisch, sondern kennt auch durchaus apokalyptisch schroffen Einspruch. Als intensive Introspektion war dies ein bewegender Eindruck. Allerdings: Nicht nur Dinge und Phänomene verschwinden, sondern auch Menschen, ein Wundmal des 20. Jahrhunderts. Nono hat in „Donde estás hermano?“ der „Desaparecidos“ der argentinischen Junta gedacht, auf Fotos der Stalin-Zeit sind Missliebige, Emigrierte oder „Liquidierte“ wegretuschiert. Und Ziel des Holocaust war, die Ermordeten im Rauch „verschwinden“ zu lassen. Verdrängen lässt sich der Doppelsinn nicht.

Nebenschauplätze

Strenge, spröde Avantgarde-Prozeduren fanden sich eher auf Neben-Schauplätzen. So hat Nick Collins einen Computer ermächtigt, aus hundert Klavierstücken drei ihm besonders zwingend vorkommende auszuwählen, also als Kurator zu wirken. In der Interpretation durch Joseph Houston wirkte die Trias bei manchen Unterschieden so wie man sich Klavier-Avantgarde vorstellt. Programmierung ist eben doch fast alles. Der Karl-Sczuka-Preis für Akustische Spielformen ging an Ulrike Janssen und Marc Matter für „Meerschallschwamm und Schweigefang“, ein hochartifizielles Spiel mit historischen Aufzeichnungs-Reminiszenzen und überaus bizarren Geräte-Namen, darin auch witzig. Aber als reine Studio-Synthetik mit unzähligen Wort-Permutationen erinnerte es fast an einstige serielle Reihen-Prozeduren mit hohem Abstraktions-Standard. So triftig es ist, der Dominanz des Visuellen mit Hör-Autonomie zu begegnen, so fiel doch auf, dass genau die Realitäts-Momente mancher Kompositionen, wie nostalgisch auch immer, hier hinter konsequenter Studio-Hermetik verschwanden.

„Struktur“ und Vitalität

Vital und vitalisierend wirkte hingegen diesmal wieder der Jazz, vor allem der Gruppe um den Berliner Schlagzeuger Christian Lillinger, die auf überbordende Elektronik verzichtete. Stattdessen zielt Lillinger gerade nicht auf Crossover, sondern orientiert sich an kompositorischen Avantgarde-Prozessen etwa Boulez’scher Provenienz. Etwas von dessen früher „nervosité“, ja „rage“ ist da mit im Spiel, und die auskomponierten Strukturen sind zwar fest, gleichzeitig aber offen für emphatisch freie Improvisation. „Struktur“ und Vitalität schließen sich nicht aus.

Gerne hat man Donaueschingen eher herablassend als obligates Branchen-Jahrestreffen, als Messe, Basar, Jahrmarkt (der Eitelkeiten) gewertet. Als ganz falsch kann man dies nicht immer einfach abtun. Man kann die Chance des Festivals auch anders definieren: als eine Art dreitägiges „Gesamtkunstwerk“, in dem nicht nur Sparten, Medien und Schauplätze interaktiv alternieren, sondern auch die Rezeption zum integralen Faktor wird. Weil Diskussion dazu gehört. Bedenkt man den Skandal, dass der Hessische Rundfunk sein bislang vorzügliches Zweites Programm nun von Wortbeiträgen freihalten will, dann kann man immerhin ahnen, wohin der Weg zu angeblich höheren Einschalt-Quoten führen könnte: zur verordneten Sprachlosigkeit. Und das wäre das Ende des ARD-Kultur-Auftrags. Donaueschingen mag nicht in allen Punkten sakrosankt sein – was ist das überhaupt? Aber als Forum ästhetisch-sozialer Kommunikation bleibt es unverzichtbar.


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