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Vorstoß ins Unerhörte

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Das Berliner Festival „UltraSchall“
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Die Neue Musik kann sich abstrampeln wie sie will: aus dem Ruch des Elitären, Verkopften, dem normal Sterblichen Unzugänglichen kommt sie einfach nicht heraus. Da hilft kein Crossover, keine Minimal Art und keine Neoromantik. In der bildenden Kunst ist das ganz anders, stellte Ultra-Schall-Leiter Rainer Pöllmann in der traditionellen Podiumsdiskussion als These auf. Über Picasso würde niemand die Nase rümpfen, wohl aber über Stockhausen – oder wer war das noch gleich? Stehen Aufsichtsratsvorsitzende wenigstens mit dem Rücken zum modernen Gemälde, um sich als Teilhaber auch eines allgemeinen Kulturkonsenses davor ablichten zu lassen, so steht die Neue Musik immer noch und immer wieder mit dem Rücken zur Wand.

Die Suche nach neuen Vermittlungsformen ist also das Gebot der Stunde, gerade auch dann, wenn ein Festival vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk veranstaltet wird – hier vom DeutschlandRadio Berlin und vom neu fusionierten Radio Berlin-Brandenburg, über dessen auf Mainstream getrimmtes Kulturradio schon reichlich geschimpft wurde. So zeigte sich UltraSchall bei seinem sechsten Durchgang um diskursive und kommunikative Formen erweitert: statt einer Podiumsdiskussion nun gleich zwei, Komponistengespräche, eine „Hörspiel-Lounge“ zum Abhängen zu später Stunde einer Galerie gegenüber der Hauptspielstätte, den trendigen, ebenfalls sonst eher Theater als Musik bietenden Sophiensälen in Berlin Mitte. Ohnehin gestanden die Diskutanten diesen Künsten die größere Nähe zum „richtigen Leben“ zu, der die Musik nachzueifern habe. Claus Spahn, Musikredakteur der „Zeit“, Gerhart Baum, Bundesminister a.D. und Beirat für „Musik der Jahrhunderte“ und selbst der Komponist Claus Steffen Mahnkopf fassten dabei allerdings weniger die gesellschaftliche Relevanz der Werke, als vielmehr die Fähigkeit auch von Komponisten, sich marktgerecht durchzusetzen, ins Auge.

Der erwünschten Vernetzung der Künste trug Ultraschall, ohne den Schwerpunkt auf der „komponierten Musik“ aufzugeben, mit zwei Musiktheaterprojekten Rechnung: Die „abstrakte Ballettmusik“ „Kraanerg“ von Iannis Xenakis“ (1969) und „Cuerpos deshabitados“ (2002/03) von José Maria Sánchez-Verdú, eine von surrealistischer Literatur aus der Zeit nach dem Spanischen Bürgerkrieg inspirierte Kammeroper. Der Titel von Xenakis’ Auftragswerk für die Tanzcompagnie Roland Petit setzt sich aus dem französischen crâne (= Hirnschale, Schädel) und der griechischen Silbe erg zusammen, meint eine Hirnenergie oder den Zusammenstoß verschiedener Energien. Entsprechend presst Roland Kluttig seinem Kammerensemble Neue Musik Berlin eine Blechbläserexplosion nach der anderen ab, gehen grelle, nach Luft schnappende Repetitionen in lang ausgehaltene düstere Streicherklänge über. Das stürzt in dumpfes elektronisches Brodeln ab, Stichwort für die Choreografie von Sasha Waltz: Panorama-Bildschirme zeigen über freies Feld gehende Menschen, langsam und stumm sich nähernd und entfernend, sich auflösend und scharfe Kontur gewinnend, in verschiedenen Perspektiven, manchmal bis zur Unkenntlichkeit fragmentiert. Wenn hier der Boden ins Schwanken gerät, bleiche Rahmen die „Fenster“ verschließen, ist vielleicht heutige Befindlichkeit gemeint; die Aufschreie, der verzweifelte Trotz dieser „abstrakten Ballettmusik“ werden damit nicht beantwortet.

Wiederaufführungen stehen im Zentrum des UltraSchall-Konzepts, das Erschließen eines zeitgenössischen Repertoires für ein breites Publikum jenseits des Uraufführungsbetriebs. Sicher bietet das Festival damit mehr Bestandsaufnahme als Initiative für überraschende Entwicklungen, balanciert so zwischen Einschaltquote und Kulturauftrag. Entdeckungen sind dabei jedoch allemal möglich. Eine veritable Ausgrabung ist Salvatore Sciarrinos etwa zweistündiges Orchesterwerk „Sui poemi concentrici“, nach der Uraufführung 1988 nie wieder gespielt. Sein musikalisches Material ist Sciarrinos Musik für eine 15-stündige Fernsehfassung von Dantes „Divina Commedia“ entnommen, „aus einem einzigen großen Atem“ erzeugte winzige Partikel etwa eines klagenden Flötenlauts, eines zirpenden Celloflageoletts, eines zart knirschenden Bogendrucks. Dies alles auf dem Hintergrund sanft schreitender, wie im Kaleidoskop gewürfelter immer gleicher Klänge – Dantes „Sturm der Worte“ will Sciarrino keinen „Sturm der Töne“ hinzufügen. Eine Illustration von „inferno“ oder „purgatorio“ sucht man so vergeblich. Das von Peter Rundel geleitete Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin realisierte diese Partitur der Andeutungen zusammen mit Solisten vom ensemble recherche mit traumwandlerischer Sensibilität; das scheinbar immer Gleiche fügt sich im Lauf der langen Dauer zum meditativen Konzentrat von frei assoziativer Qualität.

Je älter desto besser, scheint in diesem Jahr die Devise zu sein. Erstaunlich, welche Frische das Erprobte, durch einen gewissen Erfolg Bestätigte immer wieder entwickeln kann. Das traf besonders auf die Experimente der sowjetischen Frühmoderne zu: In der „langen Nacht des Klaviers“ beeindruckte „Invocation“ (1917) von Nikolai Obouchov mit unendlich wandernden Zwölftonkomplexen in knapper Gestik und reizvollen Hell-Dunkel-Kontrasten, Ivan Wyschnegradskis „Dialogue à deux“ und „Intégration“ fasziniert vor allem durch die Farbigkeit der Reibungen und Schwebungen zweier im Vierteltonabstand gestimmter Klaviere. Was sich daraus entwickelte, ließ Frank Gutschmidt mit noch seriell bestimmten Werken von Boulez und Stockhausen erleben – dem Vorurteil der seriellen Gesichtslosigkeit entgegen von erstaunlicher Individualität. Während James Dillon mit „The Book of Elements“ (2002) an gewisse Skriabineske Wendungen apart anknüpft, hat Walter Zimmermanns uraufgeführte „Blaupause“ es schwer, in minutiöser, doch klanglich karger Splitterkonstruktion kurz vor zwei Uhr morgens noch Aufmerksamkeit zu erringen. Iannis Xenakis wiederum blieb es vorbehalten, mit „Evryali“ eine plastische, mit heftigen Rhythmen packende Klangsprache zu bezeugen.

Xenakis’ Werke ziehen sich wie ein roter Faden durch das Programm. Hier ist ein Komponist (wieder) zu entdecken, dessen mathematisch fundierte Kompositionstechniken erstaunliche Emotionalität, Klangsinnlichkeit und ein reiches Netz gedanklicher, auch außermusikalischer Bezüge bergen. „Nuits“ für zwölf gemischte Stimmen etwa, gesungen von der Schola Heidelberg, ist ebenso rein phonetische, mikrotonal aufgespaltene Struktur wie in zahllosen Glissando-Klagen und rhythmische gerasterten Rufen Protest gegen die griechische Obristenherrschaft der 60er-Jahre. Xenakis fungiert bei UltraSchall zudem als „Ahnvater“ der heutigen französischen Musikszene, ist in seinen Auswirkungen auf die „Spektralisten“ Grisey und Murail bis hin zu den jüngeren Aktivisten Jean-Luc Hervé und Alain Gaussin wahrzunehmen. Ebenfalls umfangreich präsentiert sind diesmal bei UltraSchall die Österreicherin Olga Neuwirth und die Israelin Chaya Czernowin, die sich in ihrem Streichquartett von 1995 zumindest durch geschickte Handhabung von Geräuscheffekten und ihre Verknüpfung zu erstaunlich sprachähnlichen Gebilden hervortat. Ein wirklich großer Wurf war aber bisher bei den neueren Werken noch nicht auszumachen, nicht einmal die Uraufführung von „The Great Divide“ des Schlagzeugers Chris Cutler, dessen alle nur denkbaren Differenzierungen enthaltenden Klangspektren – vom Akustik-sound über Scratch-Effekte bis auf das Trommelfell prasselnde blaue Perlenschnüre – den eigentlichen UltraSchall-Vorstoß ins Undogmatische, Unerhörte hatten erhoffen lassen. Vielleicht sollten die Programmmacher demnächst noch etwas genauer auf „gesellschaftliche Relevanz“ hin auswählen – ein Komponist wie Xenakis bietet sie im Übermaß.

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