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Pierre Jodlowskis Musiktheater „Alan T.“ über den britischen Mathematiker Alan Turing. Foto: SWR
Pierre Jodlowskis Musiktheater „Alan T.“ über den britischen Mathematiker Alan Turing. Foto: SWR
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Wackelkontakte im Abendland

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Die Donaueschinger Musiktage werfen im hundertsten Jahr mancherlei Fragen auf
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Anlässlich des Beethoven-Jahrs 1970 hat Mauricio Kagel mit gleich zwei Forderungen provoziert: Das Beste, was man für Beethoven tun könne, sei, ihn für ein Jahr nicht zu spielen. Und wenn doch, dann so, dass er klänge, wie Beethoven gehört habe: nämlich „schlecht“. Zu Satire gehört die Übertreibung. Dementsprechend naiv wäre es, Kagels Bonmots blank als Rezept für jedweden Umgang mit Jubiläen zu nehmen. Und die seit 1921 bestehenden Donaueschinger Musiktage bleiben ein zentraler Strang zeitgenössischer Kulturgeschichte. Dies zu feiern, ist durchaus begründet. Den Festakt freilich dominierte Sonntags-Reden-Politsprech, auch wenn die Performerin Mara Genschel unüberhörbar flüsternd einige subversive Widerhaken setzte.

Zur Festivität gehörte die superlativische Fülle von vierundzwanzig Veranstaltungen in vier Tagen und sechs Klangkunst-Installationen. Wobei die Vielfalt einmal mehr belegte: Eine „typisch“ Donaueschinger Schule hat es kaum gegeben. Vom „Darmstadt“ der fünfziger Jahre hätte man dies eher sagen können, obwohl auch da der Eindruck weit variabler ist. Lapidar meinte denn auch Boulez beim Frankfurter Symposion 2009: „Die serielle Musik war ein Tunnel von zwei Jahren. Dieser Tunnel war absolut notwendig, um die neue Landschaft zu entdecken“. Danach wäre man wieder frei gewesen. Zweifellos war es richtig, zwei Donaueschinger Ur-Werke von 1921 und 1951 in Erinnerung zu rufen: Hindemiths drittes Streichquartett und Boulez’ „Polyphonie X“, damals skandalträchtig. Doch in ihrer strukturalistischen Rigidität wirkte sie jetzt fast befreiend gegenüber manch eher anekdotischem Komponieren.

Gepflegte Klang-Aureolen

Ein Eclat ganz anderer Art ereignete sich wieder 1958, als Boulez, Nono und Stockhausen bei Henzes „Nachtstücken und Arien“ demonstrativ den Saal verließen: zu viel des textbezogenen Wohllauts. Ein vergleichbarer Unmut blieb nun beim unerwartet pompösen Abschluss des Jubiläums-Jahrgangs aus. Francesco Filideis Oratorium „The Red Death“ erwies sich als überaus opulente Vergangenheits-Beschwörung, basierend auf Edgar Allan Poes „Maske des roten Todes“ und Dantes „Purgatorio“, samt der Anspielung auf die „Sieben Todsünden“: Horror meets Heiliges Abendland. Der Bedeutungslastigkeit von Sujet wie Texten entspricht eine Melange aus üppigem neunzehnten Jahrhundert, garniert mit Klatschen des Chors. Doch die gepflegten Klang-Aureolen lassen immer wieder fin de siècle-Assoziationen wie „Sonnenaufgang“ oder „Abendfrieden“ aufkommen. Süßer Kitsch ist da nicht mehr fern. Lange Dauer, ausladende Besetzung, hohes Einschüchterungs-Botschafts-Potenzial. Früher hätte man das einen „Schinken“ genannt. Und sollte er polemische Anspielungen auf Manierismen der Moderne in seine Partitur eingebaut haben, dann hat er sie zumindest gut kaschiert. Dass Filideis Werk auch noch den Preis des SWR-Orchesters erhielt, machte die Enttäuschung komplett. Man kann nur hoffen, dass solche Entscheidungen punktuell sind, und nicht für einen generellen roll back stehen.

Auch sonst dominierte der große Apparat, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung und programmatischer Konzeption wie Kombination, zumal bei zwei Komponistinnen. Chaya Czernowins „Unhistoric Acts“ für Streichquartett und 24-stimmiges Vokalensemble bezieht sich auf dreierlei Texte und bedrohliche, gänzlich unheroische Situationen: ein Bibel-Zitat über Vergänglichkeit, den Mord an George Floyd und anonyme Gedanken zur Pandemie, Grundthema auch Filideis. Das Jack Quartet sorgt mit scharfen pizzicato-Aktionen für grelle Akzente zum Labyrinthischen des Chors, in dem nur einzelne Namen oder Begriffe hervortreten: politische Botschaft, sporadisch vernehmlich, nie jedoch plakativ – Scheu der Komponierenden vor dem allzu Ohrenfälligen, und sei es um den Preis des semantisch Diffusen. Das Kräftespiel zwischen Wort und Klang, Streichern und Stimmen war intensiv.

Die Kanadierin Annesley Black zielt in ganz anderer Weise auf Irritation: „abgefackelte Wackelkontakte“ klingt zunächst poppig, beschreibt trotzdem die Struktur dieses Doppelkonzerts der Extreme: für das Lupofon (aus der Oboen-Familie mit stark erweiterter Höhe wie Tiefe) und No-Input-Mixing-Board, bei dem immer wieder Rück-Koppelungen entstehen, fast mitunter sprachähnliche Bandschleifen. Bizarrer Bläser-Klang, elektronische Phantasie und komplexe Orchesterstimmen gehen osmotisch ineinander über: vertraute terra incognita.

Beat Furrer verwendet zwar weder Stimmen noch Elektronik, erzielt gleichwohl einen paratheatralisch sinnlichen Wechsel zwischen motorischer Unrast und quasivokalem espressivo. Mit Ingmar Bergmans Filmtitel „Schreie und Flüstern“ wäre solche Suggestion nicht schlecht umschrieben.

Tönendes Raum-Geschiebe

Mit Atem, „Pneuma“, operiert auch Enno Poppe, obschon in viel direkterer, aggressiverer Art: „Hirn“ heißt bei ihm die ständige Transformation von Sinneseindrücken, jenseits der Dichotomie von Geist und Seele. 29 Bläser und Schlagzeug agieren gegeneinander, im Gestus mal massiv, mal zersplittert – auf jeden Fall ein starker Impact, der mitunter im Widerspiel von Blech und Pauken an Janáceks „Sinfonietta“ denken lässt. Liza Lims „World as Lover, World as Self“ ist ein veritables Klavierkonzert von virtuosem Zuschnitt, ansonsten eher gefälliger Machart.

Dagegen lebt Stefan Prins’ „under_current“ von der ständigen Interaktion zwischen E-Gitarre (Yaron Deutsch), unablässig moduliert, und Orchester, wobei manche Spezifika ineinander changieren, sich zum Bild eines Maelstroms steigern. Ähnliche, weniger bedrohliche Eindrücke hinterließen Misato Mochizukis „Intrusions“. Die Kontraste innerhalb der Konzerte waren oft enorm. So trieb die Serbin Milica Djordjevic ihr Material als gleichsam Kochendes vor sich her, bis zum ­schier katastrophischen Schluss-Schrei. Während Christian Mason in „Somewhere in the distance (lost in the horizon)“ fast landschaftliche Wechselverhältnisse von Nähe und Ferne imaginiert. Man denkt an Mahler und durch die Ondes Martenot an Messiaen: tönendes Raum-Geschiebe, nicht undekorativ, doch kitschfern.

Ganz nach Innen führt Rebecca Saunders in „Us Dead Talk Love“, einer intensiven Beschwörung hinfälliger Körperlichkeit, bis zum Kadaver, für Stimme und drei Instrumente; wobei der Altistin die Aufgabe zufällt, mit vokalen Mitteln kreatürlichen Verfall nahezubringen. Hier allerdings fiel, keineswegs zum ersten Mal, auf, wie sich die elektro­akustische Verstärkung verselbständigt, die Sängerin neutralisiert. Fast generell lässt sich beobachten, dass viel zu hoch ausgesteuert wird, „leise“ Stücke immer weniger vorkommen. Die Akustik etwa bei Rock-Konzerten, erst recht „Noise“-Produktionen ist in ihrer Brachialität oft authentisch, was aber nicht für alle Genres gelten sollte. Unter dieser Überwältigungs-Strategie litt diesmal auch das Jazz-Labor.

Gags, Pop und Parodie

Wenn es einen halbwegs einheitlichen Gesamt-Eindruck geben sollte, dann wäre es am ehesten eine Art klanglicher Fassaden-Effekt prächtiger Anmutung. Erheblichen Anteil daran hat die auffallend mehr und mehr gesteigerte Qualität des Interpretatorischen, ob im Orchester oder Ensemble, auch solistisch, instrumental wie vokal. Eine genuin Donaueschinger Ästhetik allerdings gibt es nicht. So standen etwa witzige Comic-Adaptionen und Natur-Mystisches nebeneinander, Musik aus Norwegen, Ungarn und Israel. Aus Norwegen kamen zwei Extreme. Ragnhild Berstad „transeo“ ist von Natur inspiriert, nicht zuletzt von den Vögeln. Und als besonders suggestive Klang-Träger hat sie Glas-Instrumente eingesetzt. Wollte jemand Liszts „Vogelpredigt des Heiligen Franciscus“ mit heutigen Mitteln realisieren, so ungefähr könnte das klingen. Oyvind Torvund greift höchst artifiziell in die Pop-Kis­te: lässt comic-Situationen krakelig zeichnen und ergänzt sie mit Wagner und Späteren. Die Symbiose von Tom and Jerry mit „Parsifal“ ergibt aparte wechselseitige Verfremdungen. Dass man an Berio-Berberians „Stripsody“ zurückdenkt, spricht dafür.

Johannes Kreidler zielt in „20:21 Rhythms of History“ auf ähnlich despektierlich Parodistisches: Gag-Wiederholungen „Instrumentalen Theaters“, serienhafte Flügel-Montagen. Im dekonstruktivstischen Ansatz ist das nicht ohne Komik, die indes durchs Vertrauen auf die Autonomie des Computers ins seriell Pedantische abgleitet. Manche Materialien wie Prozeduren kennt man von Kagel, der indes gerade in der Systematik entschieden surreal chaotischer verfuhr.

Oft wird gerade der neuen Musik vorgeworfen, sie sei wirklichkeitsfremd, habe etwa mit „normalem“ städtischem Leben nichts zu tun. Und mit Politik erst recht nicht. Doch wie Inneres und Äußeres fatal ineinander greifen demonstrierte Pierre Jodlowskis „Alan T.“, ein Musiktheater über den exzeptionellen britischen Mathematiker Alan Turing, der durch seine Dechiffrierung des deutschen U-Boot-Codes zum Sieg der Allierten beigetragen hat, in England gleichwohl seiner Homosexualität wegen in den Selbstmord getrieben wurde. Die Aufführung war so visuell packend wie musikalisch bewegend.

Auch fürs Populäre war gesorgt: mit der Landschaftskomposition „Donau /Rauschen Transit & Echo“ einer Musiker-Prozession von der Donauquelle zum Rathausplatz, auch als einer Hommage an die neun Anrainer-Staaten der Donau. In und auf Häusern entlang der Straße und am Zielort waren Spieler und Gruppen postiert, „beschallten“ so weithin die Stadt.

Die Fülle der Ereignisse war eminent, der Besuch extrem gut. „Elitär“ ist dies keineswegs. Dass alle Probleme heutiger Musik nicht mit einem noch so kreativ organisierten Festival zu lösen sind, versteht sich. Aber für ein hundertjähriges war es wieder ziemlich vital.

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