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Julie Martin du Theil als Hagar in Magdeburg. Foto: Nilz Böhme
Julie Martin du Theil als Hagar in Magdeburg. Foto: Nilz Böhme
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Wagner (fast) über alles: Das Musiktheater-Jahr 2016 in Mitteldeutschland

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Der Besuch aller spannenden Produktionen von Magdeburg bis Annaberg, von Görlitz bis Meiningen ist selbst für rasant mobile Besucher nicht zu stemmen und an Menge wie Substanz bewundernswert. Neben beglückenden Einzeldeutungen gibt es einen fast schon bedenklichen Hang zur Wagnermanie im Großraum, aber auch wunderbares Nischenglück wie „Luisa Fernanda“ in Nordhausen oder „Endstation Sehnsucht“ in Radebeul. Und es ist interessant, mit welchen Strategien 2016 die Musiktheater in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Publikumszuspruch und -wachstum ausbauen, wie zum Beispiel das Meininger Theater, das man in seiner polyregionalen Verfügbarkeit mit Fug und Recht ein Bayerisch-Hessisch-Thüringisches Nationaltheater nennen könnte.

Auch wenn nach außen diese Spielzeit unter politisch-wirtschaftlichen Gesichtspunkten etwas weniger turbulent scheint als die vergangene, stimmen weiterhin gewisse Meldungen bedenklich. So konnte ganz knapp vor Jahres- und damit Fristende der Hausvertrag von Theater und Philharmonie Altenburg-Gera doch noch koordiniert werden. Der Stellenplan des Orchesters wird schrittweise auf 64 heruntergesetzt – das sind etwa 45% der Musikerstärke im Wendejahr 1989. Außerdem soll eine Zukunftskommission über die Finanzierung ab 2022 beraten.

Kulturpolitische Situation

Anfang Dezember riefen die Betriebsräte der sächsischen Theater und Orchester Annaberg-Aue, Görlitz-Zittau, Döbeln-Freiberg und Plauen-Zwickau die maßgeblichen Träger und Politiker zur „Finanzierungssicherheit für die Theater und Orchester im ländlichen Raum“ auf. Seit der Verabschiedung des sächsischen Kulturraumgesetzes 1994 erhalten sich die Institutionen vor allem durch Gehaltsverzicht des künstlerischen Personals: „Strukturerhaltung wird zur Last für gerade jene, die die künstlerische Leistung erstellen. Vertreter der Landesregierung und zahlreiche Landtagsabgeordnete haben uns diesen unhaltbaren Zustand in den letzten Monaten immer wieder bestätigt. Betroffenheit allein sichert keine angemessene Entlohnung der Mitarbeiter der Häuser. Hier muss wesentlich mehr geschehen, leider spiegelt sich das im bisherigen Haushaltsentwurf noch nicht wieder.“ Die Kämpfe um Honorare, Bestand und Positionsbestimmungen gehen also weiter.

Doch dieser Rückblick gilt vorrangig der erlebten Leistungsschau. Da setzt es fürwahr in Erstaunen, dass sich an mehreren Orten zufällige oder absichtliche Reproduktionen des Gleichen oder Ähnlichen bis zur kulturellen Übersättigung fortsetzen, anstelle Alleinstellungsmerkmale (wie das Kunstfest Weimar) zu schärfen. Bei den Händel-Festspielen 2016 gab es einen Einbruch an auswärtigen Besuchern, der auch mit einem Mangel an Betten in der gehobenen Kategorie begründet wurde.

Magdeburg und Dessau

Zwei Theater prosperieren wohl besonders durch anreisende Berliner Enthusiasten. Magdeburg spielte sich mit glanzvollen Aufführungen z. B. von „Damon“ mit der Opera fuoco zu den Telemann-Tagen und Gounods „Faust“ nach vorn. Dessau indes setzt auf eher „werktreue“ Aufführungen. Der neue GMD Markus L. Frank lockt zum Jubiläum „250 Jahre Anhaltisches Orchester“ mit einem intensiven „Fliegenden Holländer“, Iordanka Derilova erweitert als Senta und im „Troubadour“ mit Intensität und Bravour ihre große Fangemeinde stetig.

Halle

Alle drei Opernhäuser Sachsen-Anhalts kickten mit vereinten Kräften den Zufall zum Konzept-Event und bewerben ihre „Holländer“-Produktionen der Spielzeit 2016/17 gemeinsam als „Holländer Hoch Drei“. Werkadäquat machte der neue Hallenser Opernintendant Florian Lutz Wagners Sturm- und Meer-Stück in der Raumbühne Heterotopia zum interaktiven Mitspieltheater mit Arbeitswesten und Onlineshopping. Nach der Intendanz Axel Köhlers will er mehr urbane und studentische Szenen gewinnen. Und er zeigt sich stolz darüber, dass er Regisseure nach Halle bringt wie für „Tosca“ Jochen Biganzoli, dem die Semperoper Dresden im Mai eine politisch und menschlich sehr bewegende Produktion von Hindemiths „Mathis der Maler“ zu danken hatte.

Leipzig und Dresden

Die beiden großen Opernhäuser Sachsens werben auswärtiges Publikum mit der verheißungsvollen Allianz von hohem Genussfaktor und angestrebter Gedankentiefe: Intendant Prof. Ulf Schirmer erhielt den Tourismuspreis der Stadt Leipzig 2016 unter anderem für den ersten kompletten „Ring des Nibelungen“, über vierzig Jahre nach der damals zukunftsweisenden Inszenierung von Joachim Herz. Ein Bänderriss der Premieren-Sopranistin bescherte im November der Regisseurin Katharina Thalbach den noch größeren PR-Schub und eigenen Sonderauftritt als eine der Primadonna im Rollstuhl zuarbeitende „Stumme von Lammermoor“.

Überragenden Stellenwert hat für die Semperoper Dresden Anna Netrebkos Wagner-Debüt in „Lohengrin“. Mit Semper Zwei gibt es seit Herbst eine neue Spielstätte für kleinere Formate. Sebastian Ritschel, der zukünftige Operndirektor der Landesbühnen Sachsen, setzte am Stammhaus in Radebeul die an der Semperoper begonnene Reihe amerikanischer Opern für Dresden hochklassig fort, André Previns „Endstation Sehnsucht“ verdiente im Oktober dort ohne Wenn und Aber fünf Sterne.

Altenburg-Gera, Meiningen, Nordhausen und Görlitz

Diese sind auch an weitere strahlende Entdeckungen zu vergeben: Hans Sommers neuromantische Oper „Rübezahl“ am Theater Altenburg-Gera (mit CD bei Pan Classics, Wiederaufnahme im Januar 2017), Albert Lortzings „Regina“ am Meininger Theater, die Zarzuela „Luisa Fernanda“ am Theater Nordhausen unter dem neuen Intendanten Daniel Klajner, Nino Rotas „La notte di un nevrastenico“ (mit Wolf-Ferraris „Susannens Geheimnis“) am Theater Görlitz.

Chemnitz und Weimar

Als Abschiedsgeschenk für den im Sommer vom Theater Chemnitz hymnisch verabschiedeten GMD Frank Beermann kam die erst vor kurzem erschienene CD von Otto Nicolais „Die Heimkehr des Verbannten“, pures Belcantoglück wie selten in Mitteldeutschland. Rühmliche Ausnahme ist da aktuell die dank hoher Intelligenz spezielle „Italienerin in Algier“ am DNT Weimar in der Regie von Tobias Kratzer, szenisch mit Affenzahn und musikalisch ein zackiges Fest.

Musical und Operette

Zu wenig ist in der Wahrnehmung die Bemühung um Neuland bei Musical und Operette. Es bleibt abzuwarten, wie Cusch Jung nach dem schönen Start mit „Die Piraten von Penzance“ das Publikum der Musikalischen Komödie Leipzig erobern wird. Leider nicht zum Kassenmagnet wurde trotz glänzender Medienresonanz „Das scharlachrote Siegel“ am Theater Chemnitz, indes Lars Tietje „The Pirate Queen“ als einen Schlusspunkt seiner Nordhäuser Intendanz, die man eine Musical-Ära nennen muss, feiern konnte. Ab 17. Dezember steht die Staatsoperette Dresden zum Start in der neuen Spielstätte Kraftwerk Mitte mit „Orpheus in der Unterwelt“ im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Vor dem jungen Operetten-Boom, dessen frechen Entdeckungen und panerotischen Retrofreuden zeigte man sich auf den Bühnen Mitteldeutschlands bisher eher gelassen.

Uraufführungen

Die Reihe mit Uraufführungen setzte Erfurts um weitere drei Jahre verlängerter Intendant Guy Montavan mit Daniel Volkers Kirchners „Gutenberg“ fort, eine Vorstufe zu „Luther 2017“ wurde das überdies. Zeitgenössische Höhepunkte lieferte das Theater Magdeburg mit Kammerproduktionen von Philippe Boesmans‘ „Julie“ und davor der Uraufführung von Sidney Corbetts „Die Andere“. Die Semperoper engagiert sich nach „Der große Gatsby“ weiterhin bemerkenswert für die Gegenwartsmusik.

Erstrangige Eindrücke

Zu den erstrangigen Eindrücken des Jahres 2016 gehörte die Vorstellungsserie von Verdis „Luisa Miller“ am Theater Plauen-Zwickau (derzeit spielt man im Ausweichquartier Malsaal, die Hauptspielstätte Gewandhaus wird aufwändig saniert), noch zu sehen sind Bellinis „I Capuleti ed i Montecchi“ in Freiberg und vor allem eine phänomenale „Pique Dame“ am Theater Chemnitz. Da muss man den Theatern Erfurt und Weimar für den strukturellen Kraftakt der „Meistersinger“-Koproduktion zwar hohe Anerkennung zollen, dessen Notwendigkeit ist aber angesichts des Wagner-Angebots im Großraum doch diskussionswürdig. Und auch weil das DNT Weimar erst vor einigen Jahren ganz aus eigener Kraft mit einem bemerkenswerten „Ring des Nibelungen“ reüssierte und „Lohengrin“ spielerisch alleine schaffte.

Theater und Publikum

Das DNT Weimar, das Meininger Theater und das Theater Dessau machen erfolgreich vor, wie man mit anspruchsvollen Produktionen bzw. konsequent ausgebauten Entdeckungsnischen langfristig zahlenstarke Publikumskreise von außen gewinnt, die sich mit Einheimischen zu affirmativen Gemeinschaften zusammenschließen. Imponierend ist der Rückhalt des Publikums zum Theater Nordhausen und das bedingungslose Vertrauen zur künstlerischen Leitung und Stückentscheidungen im Theater Annaberg. Und es ist eine Freude zu sehen, dass es am Theater Gera eine Gruppe von Stammbesuchern gibt, die man in fast jeder Opernvorstellung antrifft. Bei richtigen Entscheidungen gibt es viel Begeisterung für Neues und Abgelegenes, bei vollen Vorstellungen von Vollmers „Lola rennt“ am DNT Weimar ebenso wie in Annaberg bei der als Regionalfestspiel in Szene gesetzten Millöcker-Operette „Der Obersteiger“ mit dem hinreißenden Frank Unger. Eine schöne Überraschung wurde die erste Koproduktion des Theaters Erfurt mit dem freien Tanztheater Erfurt. Glucks „Orpheus und Eurydike“ erhielt spontan den Besucherpreis und lieferte den Beweis, dass sich bei geschickter Anbindung neue Gruppen aus der eigenen Bevölkerung für Musiktheater begeistern lassen. Vernetzungsstrategien zu Hipstern oder GLBT sind aber noch immer an nahezu allen mitteldeutschen Musiktheatern Totalausfall, da gibt es reichlich Entwicklungspotenzial.

Perspektivänderungen

Spielangebote fallen in Mitteldeutschland immer seltener auf Werktage, dafür steigt das Angebot an Zyklen und Festivals. Man kann sich ohne weiteres an Barocktagen oder am MDR Musiksommer, den Wagner- und Strauss-Tagen Leipzig, den Händel-Festspielen Halle, an Osterzyklen von Eisenach bis Dresden durchhangeln und für „Meistersinger“ von Chemnitz über Weimar nach Meiningen zurück. Es gibt viel zu entdecken auf der „Straße der Musik“, weitaus mehr als mit öffentlichen Verkehrsmitteln machbar. Auf immer mehr Verbindungsstrecken gibt es nach Vorstellungsende „Kein Zurück“.

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