Richard Wagners „Tannhäuser“ scheint besonders geeignet, die Fantasie der Regisseure in Wallung zu bringen, manchmal mit irritierendem Ergebnis wie bei der neuesten Inszenierung in Schwerin. Martin G. Berger zeichnet für sie. Er ist Operndirektor dort, wo seine Sicht auf Wagners frühe Minnesänger-Oper die Spielzeit eröffnete (Premiere: 16. September 2022).
Mit erheblichen Dissonanzen zu Wagners Libretto verwandelte er den geheimnisvollen Ritter und Minnesänger in eine Drag-Queen mit all den grellen Requisiten, die dort im Milieu eine Rolle spielen. Er entdeckte zudem in Elisabeth, Tannhäusers Sehnsuchtssubjekt, einen starken Hang zum flotten Leben. So blieb die landgräfliche Nichte und lebensfrohe junge Frau nicht lange Jungfrau.
Bedeutsamer noch ist, dass der Tannhäuser, der mittelalterliche Gesangsrivale von Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide, endlich ein Geburtsdatum hat. Das konnte die Musikforschung ihm bislang nicht geben, auch ETA Hoffmann nicht oder Novalis, zwei der vielen Gewährsleute für Wagners Libretto. Hoffnungsvoll für die Zukunft ist, dass kein Programmheft mehr bei Heinrich von Ofterdingen, bekanntlich Tannhäusers Pseudonym, auf die biografische Angabe verzichten muss. Die von seinem Ende wird wohl rechtzeitig in einschlägigen Organen veröffentlicht. Noch lebt er mit Frau und Kindern in Schwerin.
Filme zur Würze
Das war gleich anfangs zu ersehen, zum Vorspiel nämlich. Da wird der Zuschauer in kleinen Stummfilmen (Videos: Daniel M. G. Weiss) darüber aufgeklärt, dass Heinrich im Jahre 1972 geboren wurde. Ein Videobeweis bestätigte das sogleich, auf dem ein niedliches Baby mit entzücktem Vater zu erkennen ist. Heinrich wurde es genannt und wird der sein, der sich später zum Tannhäuser mausert. Man ist anzunehmen geneigt, dass die Begleitmusik zu den laufenden Bildern einem gewissen Richard Wagner eingefallen ist. Die GEMA wird es wissen. Hübsch anzuhören ist sie, passt aber nicht immer zu den Szenen, in denen der Besucher erfährt, dass Heinrich schon früh mit Burgen und Drachen spielte. Das tat er – wie vieles mehr – zusammen mit seinen beiden Freunden, einer Elisabeth und jenem oben genannten Wolfgang. Aus weiteren Sequenzen ersieht man, wieder in Schwarz-Weiß, dass Heinrich sich gern mit weiblichen Kleidungsstücken beschäftigte und beim Nacktbaden mit seinen beiden Freunden sehr verschämt tat. Vielleicht deswegen hat ETA Hoffmann ihm „ein unruhiges zerrissenes Wesen“ angedichtet, was manches erklären könnte. Dennoch müssen hier Zweifel an der Authentizität angemeldet werden, da ja mindestens noch einer dabei gewesen sein muss, nämlich der, der filmte. So bleibt die Frage, ist das alles echt oder Heinrich nur ein guter Mime (nicht der Nibelungische!)?
Der psychologisch trainierte Opernbesucher, der bei Wagner sehr viel Gelegenheit hat, sich darin zu üben, diagnostiziert für diese Neigung sofort eine sexuelle Ausrichtung, nichts Krankhaftes, allenfalls vielleicht Schrilles. Eine weitere Filmsequenz zeigt, dass die anderen beiden Freunde sich finden und selbst zwei Kinder zeugen, was nicht zu sehen ist. So bleibt eine gewisse Unschärfe, wer der Papa ist, da Elisabeth auch dem anderen Spielgefährten, dem Heinrich, sich gern zuneigte. Auch darin vollzieht sich eine Wandlung, so dass sie am Ende der Oper durchaus hätte sagen können: „Heinrich! mir graut vor dir!“ Später ist, jetzt im Jahre 2022, Heinrich zu sehen, wie er, mit stark betonten Augenbrauen toll geschminkt, sich in ein üppiges Kleid zwängt und eine blonde Perücke überstülpt. In diesem Aufzug und in der wenig frischen Luft im Hörselberg scheint er sich nach etlichen Jahren nicht mehr zu mögen, auch die Lust nicht mehr, die Venus ihm gibt. Seinen Abschied wird er damit begründen, dass er keine Nachtigall hört und Tag und Nacht nicht unterscheiden kann. Vor allem will er „durch Buß und Sühne“ Ruhe finden. Vorausschauend, was einer guten Ouvertüre zu sein anzuraten ist, schminkt er sich zum Ende des Vorspiels erst einmal ab. Da passte die Musik, auch wenn so mancher Zuschauer sich bereits irritiert fühlte.
Drags
Auch darüber darf man sich nicht wundern, dass das Jahr der seine Geburt des Tannhäusers erst einige Jahrhunderte verspätet kund wird. Laut Vorfilm ist er inzwischen 50 Jahre alt oder, anders formuliert, ein Semicentenarier. Sein Alter Ego, der Heldentenor Heiko Börner, mag auch etwa das Alter haben. Bis dato (welches sei offengelassen) sorgte er im Venus- oder Hörselberg für Furore. Das ist daraus zu schließen, dass Frau Venus ihn nicht gehen lassen will. Sie ist nämlich zur göttlichen Herrscherin in einem ebensolchen Etablissement oder Varieté geworden, in dem es unterirdisch hoch hergeht. Tannhäuser ist dort mit einem Stab von anderen Drags, also solchen, die „dressed as a girl“ herumlaufen, für göttliche Lustversorgung zuständig. Da es nur auf die ankommt, ist es gleichgültig, ob das durch Frau oder Mann oder andere Bi- oder Polywesen geschieht, aber voraussetzt, wie es die Regie tut, dass eine Drag-Queen nur darauf abzielt. Was hätte sie sonst im Venusberg zu suchen?
Revolutionäres?
Man darf dies wie andere Momente der Inszenierung nicht hinterfragen, weil die Aufführung sonst, wie oben schon zweimal gesagt, noch heftiger irritiert. Sie will aber laut Programmzettel „tatsächlich ein revolutionäres Potential“ haben, will sich „die Figur des Tannhäusers als revolutionäres Subjekt der Romantik“ vorstellen, als „heimatloser, der kein Zuhause findet“ weder in der „sinnlichen Sphäre“ der Venus noch in der „sittlichen Gemeinschaft Elisabeths“. Das aber bringt hier ständige Reibepunkte, allein durch die vier Zeitebenen. Da ist die der mittelalterlichen Sängerkrieger auf der Wartburg, eine Ebene ohne Venus. Dann ist die in Wagners Libretto, ein Konglomerat fremder und eigener Ideen, aber mit der Venus. Dem steht unsere gerade vergangene, aber bereits historische Ebene entgegen, die die Filme erfassen. Sie insbesondere drängen sich durch riesengroße Projektionen und durch Wiederholungen auf und wollen vom Zuschauer stets als sinnvoll durchdacht werden. Alles wird schließlich im aktuellen Spiel munter gemixt, in dem der zur Drag-Queen gewordene Protagonist in bombastischen Bühnenbildern (Sarah-Katharina Karl) agiert. Dabei wird vor allem die Deckenplatte bewegt, mal gerade, mal nach hinten abfallend. Sie ist Bühnenhimmel, ist Varieté mit Glitzervorhang, ist die Wartburg oder ein Kirchenraum und erstaunlich schnell zu bewegen.
Meinungsstreit
Dennoch gab es zum zweiten Aktschluss bereits Buhrufer, neben freundlichen Claqueuren wie beim ersten. Zum Finale steigerten sich beide. Geschickt wurden deshalb erst die Sänger an die Rampe geschickt, zudem GMD und Dirigent Mark Rohde und Aki Schmitt, der den Chor so besonders geformt hatte. Da alle großen Beifall erhielten, hoffte man, die Buhrufer zu ermüden, ein Kalkül, das nicht aufging. So zeigte sich erst nach langer Verzögerung das gestaltende Personal, darunter auch Esther Bialas. Sie ist noch nachzutragen, weil sie die Kostüme erschuf. Knallig war alles um Venus, bieder alles um den Minnesang und recht zeitgemäß und alltäglich, was der große Chor und Extrachor, in der Stärke gesanglich eine Wucht, in seinen diversen Rollen kennzeichnen sollte.
Großen Beifall erhielt Heiko Börner in der fordernden Titelpartie, dem man eine Knieverletzung nicht anmerkte. Er war ein verlässlicher Tenor mit starker Stimme, die sowohl Dramatisches wie Lyrisches meisterte, der von seiner Liebeserklärung an Venus bis hin zur Romerzählung differenziert gestaltete, keine Ermüdung hören ließ, dazu mit seiner ständigen Maskerade auch darstellerisch viel zu tun hatte. Als zweiter Gast trumpfte Renatus Mészár in seiner Rolle als Landgraf von Thüringen auf. Sein kraftvoller, respektheischender Bass war genau das Richtige für diese Rolle. Brian Davis, einem Ensemblemitglied, oblag als Wolfram siegessicher „in diesem edlen Kreise“ umherzublicken und sein „Herz erglühn“ zu lassen. Sein fein klingender Bariton erhielt nicht nur von den auf der Wartburg Anwesenden den ihm zustehenden Applaus, auch vom Publikum sowie von Elisabeth. Sie aber war das Zünglein an der Waage im Kampf um den Sieg unter den singenden Dichtern, in dem es auch um sie als Hauptgewinn ging. Zur musikalischen Qualität und Geschlossenheit trug das weitere Quartett der Minnesänger gehörig bei, alle aus Schwerins Ensemble. Dazu zählten Marius Pallesen als Walther von der Vogelweide, Martin Gerke als Biterolf, Sebastian Köppl als Heinrich der Schreiber und Young Kwon als Reinmar von Zweter.
Es bleiben die drei Frauenstimmen. Die eine gehört dem Hirten, der Marie-Louise Tosheva, eine Chorsolistin, aus dem Off einen leuchtenden Klang gab. Für die erkrankte Venus war kurzfristig Julia Rutigliano eingesprungen, einen klaren, leicht rauchigen Klang gab sie der enttäuschten Göttin, die mehr als von Wagner vorgeschrieben, Bühnenpräsenz hatte. Die wichtigste Partie für die Bedeutung des Musikdramas ist die von Elisabeth, gestaltet von Camila Ribero-Souza. Ihr wurde am stärksten von der Regie mitgespielt, weil sie ein Doppelwesen zu sein hatte. Einerseits sollte sie die reine Jungfrau sein und andererseits die lebensbejahende Mutter zweier Kinder. Bewundernswert wie sie das durchstand. Ihre Stimme, ein starker und dramatischer Sopran, steckte alle Anstrengung weg. Nur als Schauspielerin wurde ihr zu viel zugemutet. Im zweiten Akt beim Sängerfest hatte sie munter mitzuschwofen und zu turteln, alles in einer Szene, die mit dem banalen Tanzgetue den Wettstreit der Minnesänger zu einer belanglosen Unterhaltungsveranstaltung degradierte. Im nächsten Akt dann wartete sie in der Kirche zusammen mit ihren Kindern auf deren möglichen Erzeuger. Dass der dann als Braut verkleidet in Weiß erschien, ist schon sehr grenzwertig. Nur mit Kopfschütteln war zu erleben, dass sie sich im Angesicht ihrer Kinder mit einem Messer ein Ende zu setzen hatte.
Resümee
Dieser „Tannhäuser“ ist ein merkwürdiges Gemisch geworden, dem auch nach zeitlichem Abstand szenisch nichts Überzeugendes abzugewinnen ist, der allenfalls durch die lebhafte musikalische Ausführung überzeugt.