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Den Kampf gegen die gesellschaftlichen Zwänge kämpfen die Figuren in David Hermanns Inszenierung von Lucia Ronchettis „Der Doppelgänger“ wie Laborratten im Setzkasten von Bettina Meyers Bühnenbild. Foto: Elmar Witt

Den Kampf gegen die gesellschaftlichen Zwänge kämpfen die Figuren in David Hermanns Inszenierung von Lucia Ronchettis „Der Doppelgänger“ wie Laborratten im Setzkasten von Bettina Meyers Bühnenbild. Foto: Elmar Witt

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Wahnsinn mit Methode

Untertitel
Lucia Ronchettis „Der Doppelgänger“ bei den Schwetzinger SWR Festspielen
Vorspann / Teaser

Der unruhig pochende Herzschlag einer Pauke wird dreimal von ratternden Trommelsalven überfahren. Offenbar gerät hier jemand unter die Räder. Den maschinengewehrartigen Salven folgen Bläsermelodien, die durch Dämpfer und Glissandi wie geknebelt erscheinen. Dann schreckt die Hauptfigur aus dem Albtraum auf. In der Rolle des subalternen Beamten Goljadkin schwankt Peter Schöne atem- und orientierungslos zwischen Stammeln und Sprechen, Singen und Keuchen, hohem Fistelstimmchen und sonorem Bariton. Ebenso haltlos taumelt die Musik von einem Stil zum anderen: tonale Bläserattacken, jazzige Fanfaren, mikrotonal verfremdete Folklore, opernhafte Dramatik, Schrammel- und Jahrmarktsmusik. Das hektische Zappen – typisch für die Komponistin – wird zur Verzweiflung eines Ertrinkenden, der nach jedem Rettungsanker greift.

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Lucia Ronchettis „Der Doppelgänger“ für sechs Solostimmen und kleines Orchester basiert auf Katja Petrowskajas Libretto nach dem gleichnamigen Roman von Dostojewski. Im zaristischen Petersburg der 1840er-Jahre wird Goljadkin eines Tages von einem Doppelgänger aus Amt und Gesellschaft gedrängt. Regisseur David Hermann und Kostümbildnerin Youjin Seo zeigen die Schizophrenie des sich selbst entfremdeten Beamten – wie später die Figuren in Kafkas Romanen und Erzählungen – als das Spiegelbild einer durch hierarchischen Staatsapparat und Bürokratie deformierten Gesellschaft. Michel Foucault analysierte in „Wahnsinn und Gesellschaft“, dass die rational organisierte Gesellschaft alles „Andere der Vernunft“ auszugrenzen versucht. Ebenso reagiert die Petersburger Etikette panisch auf die irritierenden Abweichungen des einzelnen Menschen.

Die Klänge der Irren

Außer der Hauptfigur sind sämtliche Personen maskenhaft geschminkt als seien es gespenstische Larven. Alle funktionieren perfekt in ihren durch Ehrenkodex, Einkommen und Geschlecht vorgegebenen Rollen. Einzig der Antiheld zeigt sein wahres Gesicht und wird prompt zum Opfer, weil er seine Sehnsüchte und Versagensängste offenbart und sich dadurch angreifbar macht. Sein Doppelgänger ist ihm zunächst stimmlich ebenbürtig. Doch Bassbariton Chris­tian Tschelebiew gewinnt schnell die Oberhand. Ebenso verstärken die übrigen Partien die wachsende Verstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Diener (Zivi Emanel-Marial) überschlägt sich im höchsten Sopran, der Vorgesetzte (Vladyslav Tlushch) spult mechanisch Wortketten ab, und der sanfte Gesang der geliebten Klara (Olivia Stahn) wird von tickenden Batutti und psychotisch entgleitenden Pizzikati unterhöhlt.

Die 1963 in Rom geborene Komponistin lässt das SWR-Sinfonieorches­ter unter Leitung von Tito Ceccherini ein wahnhaftes Spiegelkabinett entfalten: übertrieben heiteres Spieluhrgeklingel, quietschend forciertes Fiddeln, manisch perlende Läufe und einen pseudo-barocken Tambour-Marsch. Aus der schwarzen Hinterbühne dringen wie aus dem Unterbewusstsein geheimnisvolle Frauen- und Männerstimmen als handle es sich um Phantasmagorien oder schizoide Einflüsterungen. 

Kein Ausweg

Davor erhebt sich Bettina Meyers Bühnenbild als riesiger, aufgestellter Setzkasten, in dem alle Figuren wie im Zwangsapparat der verwalteten Gesellschaft agieren und vom Publikum des Schwetzinger Schlosstheaters als Laborratten zu beobachten sind. Indem sich die Wände und Decken der Kammern heben, senken, dehnen und stauchen entsteht ein beklemmendes Psycho- und Sozialmodell wechselnder Verhältnisse von Macht und Ohnmacht, Auf- und Abstieg, Gruppe und Isolation. Der durchdrehende Goljadkin wirkt am Ende ruhig und gefasst, während ausgerechnet der Doktor, der ihn nun in eine Anstalt einliefert, mit einer exaltierten Wahnsinnsarie ausrastet und damit die Kernaussage bloßlegt: Nicht der Patient ist krank, sondern das System, das ihn dazu gemacht hat und aussortiert. Solcher Wahnsinn hat Methode. Gleichzeitig schiebt sich aus dem flächig wirkenden Setzkasten ein Sprungbrett in die dritte Dimension, als öffne sich ein Ausweg. 

Doch aus dem „ganzen Zirkus“ befreien keine Utopien, sondern nur Selbstmord oder eben Wahnsinn. – Die bejubelte Uraufführung der sehens- und hörenswerten Kammeroper fand nur eine Folgeaufführung. Eine Wiederaufnahme gibt es im September am Luzerner Theater.

Rainer Nonnenmann

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