Im vergangenen Jahr gab es beim Festival d’Aix-en-Provence Ärger und Zensureingriffe wegen vier Köpfen und Osmins Rache-Orgie „erst geköpft und dann gehangen“. Martin Kušejs Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“ wollte zeigen, dass von religiösen Fanatikern auch 2015 enthauptet wird. Um Wiederholungsfälle weiträumig zu vermeiden, schien Festivaldirektor Bernard Foccroulle heuer auf Nummer sicher gehen zu wollen.
Er verpflichtete ausreichend dunkelhäutige Statisten und auch ein paar aus dem Orient stammende Musiker, um den Willen zu französischer Multikulturalität zu unterstreichen. Vor allem aber setzte er Stücke an, in deren Libretti es um die Liebe und nichts als das privateste Begehren geht: Neben Maeterlincks in mittelalterlichen Burgmauern eingefasstem drame statique „Pelléas et Mélisande“ zum Auftakt die aus der Rokoko-Zeit herrührende Binnenbeziehungskiste „Così fan tutte“ von Lorenzo Da Ponte und, im Zentrum des Programms, mit „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ von Benedetto Kardinal Pamphilj ein moralphilosophisches Lehrstück aus dem Rom des Jahres 1707.
* * *
Zwischen Mozart und Händel, zugeschnitten auf (menschheits)kindliches Gemüt, gab’s eine neue palästinensische Bearbeitung von zweitausend Jahre alten Fabeln: „Kalîla wa Dimna“ – opéra en arabe et français. Der aus dem Gaza-Streifen stammende Komponist und Sänger Moneim Adwan bestritt die Partie des verräterischen Aufsteigers Dimna selbst. Er arrangierte eine gut goutierbare arabische Pop-Musik zur Geschichte vom willensschwachen, von der Mutter gelenkten König. Der freundet sich erst mit dem Intriganten Dimna an, dann mit dem Volkssänger Chatraba. Den naiven Liedermacher lässt der Monarch aber umbringen, als ihm der eifersüchtige Dimna souffliert, die Lieder von den Freuden, Sorgen und Nöten der kleinen Leute im Reich hätten einen subversiven Kontext. Eingelagert in dieses Märchen aus besseren orientalischen Zeiten findet sich die Fabel der Raubtiere, die reihum anbieten, sich angesichts einer Hungersnot zum Fraß zu opfern – bis auch das dumme Kamel dies tut. Möglicherweise ließe sich aus diesem gutgemeinten Stück ein Musiktheaterabend kreieren, das einen heutigen „Fürstenspiegel“ entwickelt. Aber Olivier Letellier lieferte eine Produktion, die sämtlichen Zensurgeboten der Machthaber von Abu Dhabi gehorcht und eben das nicht probiert, was es auszuloten gälte. Eine vorsätzlich entpolitisierte Theaterkunst erweist sich mithin als politisch instrumentalisiert – auf eine ziemlich faule Art. Wahrheitserkundung hinsichtlich der Willkür von Machthabern sieht anders aus. Aber das Festival kann in die Golfstaaten exportieren.
Auf nach Apfelsinien
„Così fan tutte“, ausgeheckt und in Auftrag gegeben vom deutsch-österreichischen Kaiser Joseph II., darf durchaus als Aufklärungsgeschichte verstanden werden – als Plädoyer für die erotisch-sexuelle Gleichberechtigung der Frauen und für einen gewissen Pragmatismus bei der PartnerInnenwahl sowie als Fingerzeig auf die Folgen der allwaltenden Wiener Promiskuität (rund 20 % der Bevölkerung mussten um 1790 gegen Syphilis behandelt werden, auch Mozart). Inspiriert von Bräuchen des mitteldeutschen Stadttheaters verlegte Regisseur Christophe Honoré die Handlung in die Zeit des italienischen Abessinienfeldzugs (1935/36) und ein nordafrikanischen Fort. An dessen hohe Mauer werden nicht nur Portrait-Plakate der zu den Waffen gerufenen Così-Liebhaber geklebt, sondern auch die des Ratti-Papstes Pius XI. und Benedetto Mussolinis. Dessen schwarze Fahne flattert den abrückenden Truppen voran. Dunkelhäutige Statisten und Mitglieder des preiswerten Cape Town Opera Chorus sorgen für ‚colorit locale‘: Sie bilden die allgegenwärtige Staffage für die Wette des Philosophen Alfonso und der beiden Offiziere (von denen Ferrando gewalttätigen Sex mit einer halb verhungerten oder magersüchtigen schwarzen Prostituierten demonstriert). Und sie weichen den beiden Schwestern nicht von der Seite, deren Köpfchen nur das Eine denken können und deren Körper nach dem Willen des Regisseurs in allen Fasern aufs Pudern eingestellt sein sollen. Kate Lindseys vorzügliche Dorabella-Stimmbänder scheinen von den szenischen Anforderungen in sehr knappen heißen Höschen eher animiert als angefochten. Die nicht minder erotisch dampfende Lenneke Ruiten hingegen, die als Fiordiligi auch die Skrupel und die Liebesverratsängste besingen muss, hat gerade damit gewisse Mühen – und vielleicht steht sie ja auch nicht so auf die prächtig ausgestellte phallische Männlichkeit der schwarzen Männerstatisten.
Die Banalität des Eindimensionalen führt selbst bei eingefleischten Connaisseuren zu vorzeitigen Ermüdungserscheinungen. Denen steuert Louis Langrée entgegen – mit dem makellos elegant und immer wieder auch in der gebotenen Zügigkeit aufspielenden Freiburger Barockorchester. Dem südwestdeutschen Spezial-Ensemble gelingen ebenso zärtliche Momente wie die Intonationen kesser Begehrlichkeit. Die krassen Anachronismen und Ungereimtheiten der Inszenierung dieses inzwischen in denkwürdiger Weise altväterlich anmutenden Stücks treten bereits vorab an den Flughäfen vor Augen: Da verlieben sich die Singles bei Parship garantiert alle elf Minuten. Im Hof der Ancien Archevêché fragt man sich, warum es gefühlte elf Stunden dauern muss, bis Dorabella und Fiordiligi den zweiten Aufguss dessen bekommen, was sie eh schon hatten. Und eigentlich braucht es auch keine faschistischen Uniformen und Standarten dazu.
Die Wahrheit als historischer Kompromiss?
Größere künstlerische Erwartungen richteten sich auf Krzysztof Warlikowskis Inszenierung des Oratoriums, das der junge Händel im Haushalt des römischen Kardinals Pamphilj schrieb: Musik zu einem Lehrstück und memento mori, das die Zeit und die Desillusionierung als allegorische Figuren in Kontrast setzt zur vergänglichen Schönheit und dem irgendwie ewigjungen Vergnügen. In diesen beiden Partien liefern Sabine Devieilhe und der Counter Franco Fagioli Weltbestleistungen ab. Mitunter sehr hurtig und dann auch wieder manieriert gefühlig mit von der Partie ist das Ensemble Le Concert d’Astrée aus Lille. Warlikowski zeigt eingangs per Video und mit zappelnder Partygesellschaft den Exzess der Schönheit beim Tanz- und Paarungsvergnügen – und dann die Folgen in jenem Bereich, für den die Kranken- und Sozialkassen zuständig sind. Auf vielen Kinosesseln rechts und links vom gläsernen Aufzug die quälenden Verhandlungen einer sinnschwachen dogmatischen Allegorienwelt zur Händelschen Musik mit ihren wunderschön quälenden Redundanzen. All diese leeren Gesten zu dem nach den Jugendexzessen beschädigten Leben ergeben einen in seiner Leere großen Abend. Der zielt auf nichts weniger als „die Wahrheit“. Einsame Spitze ist der Video-Auftritt von Jacques Derrida kurz vor der Pause: Der pfeiferauchende Philosophen-Dandy erklärte einer mit gläubig leuchtenden Augen glubschenden Journalistin, wie sich Geisterglauben kreieren lässt.
La vérité, la vérité
Einen Volltreffer landete das Festival mit „Pelléas et Mélisande“. Wie selbstverständlich schmiegt sich Claude Debussys Tonspur unter die imposante Bühneninstallation. Mit leichter Hand und sicherem Gespür für den diskreten Charme der „klassisch modernen“ Klang-Lineaturen und -flächen administriert Esa-Pekka Salonen das aus London angereiste Philharmonia Orchestra. Der 1945 gegründete Klangkörper, der bei internationalen Evaluationen fortdauernd in der Spitzengruppe rangiert, meistert die irisierenden Schönheiten ebenso wie das gelegentliche dunkle Grollen mit dem wünschenswerten Perfektionsgrad und verströmt bei allem Hochglanz zugleich auch herrliches Fäulnis-Aroma des fin de siècle. Es ist wie perfekte Filmmusik zu den Einblicken in das moderat modern verbürgerlichte Schloss des mythischen Königs Arkel. Die Choreographie der Sichtblenden sorgt dafür, dass von Lizzie Clachens Bühnengebäude fast immer nur ein einzelner Raum zu sehen ist, während anderweitig umgebaut wird.
Nicht am Brunnen im tiefen Wald, sondern im Brautkleid und anfangs hingestreckt aufs breite Bett schickt sich Mélisande zum Träumen an. Sie geht dann aber noch einmal rasch ins Badezimmer nebenan. Indem sie zurückkehrt, bemerkt sie (und das Auditorium) den dichten Wald, der übers Bett gewachsen ist. Auch den Brunnen, der sich vorm Fußende aufgetan hat und den auf der Jagd vom Weg abgekommenen Golaud im Sessel. Der Macht- und Triebmensch, stimmlich wie darstellerisch von Laurent Naouri bestens beglaubigt, annektiert die wortkarge und hinsichtlich ihrer Wünsche schwankende Mélisande. Er macht sie kurz entschlossen zu seiner nächsten Frau. Barbara Hannigan nutzt die Partie des Weibchens, das immer nicht weiß, wie ihm wird, für sensationelle Auftritte mit faszinierender Bühnenpräsenz. Die Facetten der Stimme leuchten die Gemütslagen aus und die von der Regie auferlegten Bodenturnübungen unterstreichen, was der empfindsamen Seele angetan wird. Mehr noch die Doubles, die für sie, den gewalttätigen Ehemann und dessen verklemmt-sensiblen Halbbruder und Haupthelden aufgeboten werden. Sie akzentuieren die Erwartungen, Erwägungen und Erklärungen des Unausgesprochenen. Die Rolle des Träumers und Frauenverstehers Pélleas ist mit dem in Tenor- und Bariton-Partien gleichermaßen versierten Stéphane Degout optimal besetzt. Die Hannigan aber ist diesem Sänger der Weltspitzenklasse in den Schlüsselszenen noch eine Nasenlänge voraus.
Katie Mitchells Absicht war es, das Publikum an der Sichtweise teilhaben zu lassen, auf die die anderen singenden Personen der geschlossenen Versuchsanordnung ihre Projektionen richten – und Mélisande träumt, traumwandelt, durchsingt, erklettert und durchturnt diese Kopfgeburt. In den größeren und kleineren Schlaf-, Ess- und Wohnzimmern, den Ankleidekammern und Treppenhäusern, am leergepumpten Swimmingpool und im tiefen Keller. Die im Kern banale Dreiecksgeschichte, in der sich gut und böse, Licht und Finsternis in schlichter Familiarität und Gemütlichkeit gegenüberstehen, fragt immer wieder nach der Wahrheit. Das kommt in verlogenen Verhältnissen allemal besonders gut und hat keinen wirklichen Preis. Die provençalische Festspielproduktion ist für den Export ins kulturell gegängelte Polen und nach Peking geeignet. Beanstandungen sind hier wie dort nicht zu erwarten.
In Jacob Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ findet sich der Satz: „Vollends im Reiche des Gedankens gehen alle Schlagbäume billig in die Höhe“. Er kann auch auf die performativen Künste angewendet werden, obwohl das Musiktheater nicht einfach dem Gedankenfach zuzuordnen ist (in Gänze schon gar nicht).