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WALDESRUH, Regie: Anna-Sophie Mahler, Uraufführung: 2. Oktober 2020 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, Foto: © Thomas Aurin
WALDESRUH, Regie: Anna-Sophie Mahler, Uraufführung: 2. Oktober 2020 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, Foto: © Thomas Aurin
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Waldesruh: „Karl, der Käfer“ trifft an der Deutschen Oper Berlin auf Morton Feldmans „Triadic Memories“

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Als ein „Dokumentarisches Musiktheater“ versteht sich die jüngste, von Michael Wilhelmi arrangierte, von Anna-Sophie Mahler inszenierte und Sophie Krayer aufwändig ausgestattete Produktion an der zweiten Spielstätte der Deutschen Oper Berlin – ein ungewöhnlicher Theaterabend mit Musik von Morton Feldman, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Schubert und Richard Strauss.

Wie lässt sich Marton Feldmanns Klavierwerk, die 1981 entstandenen „Triadic memories“, in der ehemaligen Tischlerei der Deutschen Oper Berlin szenisch versinnlichen?

Regisseurin Anna-Sophie Mahler rückte das nicht enden wollende Klavierstück, mit seinen nur scheinbar wiederkehrenden Tonkonstellationen in einen szenischen Abend über den deutschen Wald – zwischen romantischer Weltflucht und Trockenstress. Die bislang wohl längste Produktion in der Tischlerei, noch verlängert durch eine (Corona-bedingte) 20-minütige Pause, beginnt im Innenhof hinter dem Tischlerei-Trakt der Deutschen Oper Berlin gleich mit dem schönsten Teil des Abends: aus 19 Fenstern singen die Mitglieder des Jugendchors unter der Leitung von Christian Lindhorst a cappella Mendelssohns „Abschied vom Wald“. Über hohe, metallene Treppenstufen erfolgt sodann der Eintritt des knapp 50-köpfigen Publikums in den Innenraum.

Anstelle von Bäumen sind in dieser Waldlandschaft mobile Lautsprecher auf Wagen (von Annatina Huwiler als Hexergone gestaltet) im Einsatz, acht riesige Sonnensegel werden über die im Rechteck an allen vier Seiten des Saales angeordneten, grün bespannten Podeste gezogen.

Diverse „Experten“ geben ihr Wissen ans Publikum weiter, welches sie vorher von echten Experten zu biologischen und soziologischen Themen rund um den Wald gesammelt hatten. So tritt beispielsweise als „Pilzexpertin“ ein junger Mann mit Bart auf: mit selbst leuchtendem Kragen und Applikationen auf dem Jackett, die an Wildwuchs von Pilzen erinnern, entpuppt sich Michael Wilhelmi als ein trefflicher Pianist, der die ihm in den Mund gelegten Texte ebenso dramatisch umsetzt wie seinen Klavierpart.

Die Zuschauer, die beim Einlass von den „Experten“ auf die für Versuchsbäume erforderlichen 1,5 Meter Abstand instruiert worden waren, wobei die angekündigte Entfernung einiger zu nahe stehender „Bäume“ dann doch nicht vorgenommen wurde, wurden danach in Buchen und Fichten eingeteilt und auf den als Plots bezeichneten Podesteriegebilden in Rein- und Mischkultur unterschieden. Im Zusammenhang mit der Frage, ob die Pflanze ein Bewusstsein habe, erfolgte die elektroakustisch vielfach verstärkte Einblendung einer Raupe, die ein Blatt frisst. Bäume, denen diese Aufnahme vorgespielt wurde, sollen dieselben Lockstoffe für Feinde der Raupen entwickelt haben, wie beim tatsächlichen Angefressenwerden durch Raupen: ein Beweis also, dass Bäume hören können!

Der Bariton Philipp Jekal interpretiert Franz Schuberts „Aufenthalt“ aus dem „Schwanengesang“ und das (kürzlich auch in der „Walk“-Produktion der Staatsoper forciert eingesetzte) „Wanderers Nachtlied“. Sopranistin Rebecca Petersen ändert in ihrem Gesang die Texte von Schuberts „Schlaflied“: möglicherweise aus Gender-Bestrebungen wird „Knabe“ zu „Mensch“ und „Bübchen“ zu „Mägdlein“. Bei Daphnes Metamorphose aus Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper bleibt die Stipendiatin der Opera Foundation mit hochdramatischer Tongebung weitgehend textunverständlich, so dass hier keine Retuschen erforderlich schienen.

Von drei der vier Ecken des Saales erfolgt Live-Begleitung durch Klavier, Celesta oder Keyboard, zum Teil elektronisch versetzt. Letzteres gemahnt stark an die in dieser Location angesiedelte Reihe „Aus dem Hinterhalt“.

Albert Lortzings „Auf, Gesellen, greift zur Axt!“ aus „Zar und Zimmermann“ wird in einzelne Satzfetzen aufgedröselt, mit dem Ostinato einer Elektromotorsäge des Baritons garniert und läuft atonal aus. In dem vom Musiker und Performer Falk Rößler poppig vorgetragenen Gänsehaut-Song „Karl der Käfer“ stimmt Schauspieler Thomas Douglas als Counter-Begleitstimme mit ein.

Nach der Pause – mit einem im Kartenpreis inbegriffenen Getränk – finden die Zuschauer*innen neben ihren weit gestreuten Sitzplätzen Kuscheldecken vor. Aus dem an diesem Abend ungenutzten Foyer dieser kleinen Spielstätte ertönt vom Jungen Chor sauber intoniert Johannes Brahms‘ „Waldesnacht“, wobei das letzte Wort „Nacht“ zugunsten einer repetiert gesummten Strophe entfällt. Die jungen Stimmen erklingen dann auch in der Metamorphose des breiten Nachspiels zu Richard Strauss‘ Verwandlung der Daphne.

Dabei war bereits opernhaft blaues Stimmungslicht und Nebel zum Einsatz gekommen. Der Schauspieler, nun im Zottelkostüm, sagt als Waldmensch den in dieser Zeit besonders gewichtigen Satz „Ohne den mikrobakteriellen Teil in mir wäre ich nicht lebensfähig!“

Nun wird ein Flügel hereingeschoben, und der vordem noch nicht ins Spiel integrierte Pianist Stephan Wirth spielt von seinem iPad Feldmanns umfangreiche, teils dreistimmig, teils akkordisch angeordnete, labyrinthische Komposition. Regie und Dramaturgie haben diese Komposition als Napping fürs Publikum konzipiert, daher die grünen Kuscheldecken. Wer die Augen bei den sich ständig mikroskopisch verändernden Tonsequenzen offen behält, der/die erlebt zwischen den Strippen der gespannten Sonnensegel, auf den Tüchern und auf dem Deckengewölbe der Tischlerei, mobile Projektionen á la Waldweben und Mikrokosmos, bis hin zu den am Ende schwarz-weißen, realistischen Blätterkronen. Kurz nachdem die ersten der – den gesamten Abend mit obligatorischem Mund-Nasenschutz versehenen – Besucher angesichts fehlender (Wald-)Luft bereits das Weite gesucht haben, endet der Abend mit den aus einem Nebenraum kaum mehr vernehmbaren „Nebensonnen“ aus Franz Schuberts „Winterreise“ und deren Fazit, „Im Dunkeln wird mir wohler sein“; dabei erlöschen auch die vier Nebensonnen-Projektoren im kollektiven „Zeltlager ohne Bäume“.

Applaus mit Füßetrampeln auf den sonoren Podesten, die hier im Spiel als „Plots“ bezeichnet wurden, danken allen Beteiligten für das ungewöhnliche Experiment, dessen Klassifizierung als Uraufführung sich mehr auf die dramatisierte Form der Experten-Aussagen und auf die Abfolge bezog als auf die dargebotene Musik selbst.

Das Programmheft mit acht informativen Seiten, inklusive dem bisweilen erforderlichen Abdruck der Gesangstexte (aber auch der dem/r Besucher*in auferlegten Spurensuche Who is Who), bedeutete diesmal – gegenüber den in der Tischlerei vorangegangenen Produktionen – keine Reduzierung.

  • Weitere Vorstellungen: 3., 12., 13., 15., 16., 17. und 18. Oktober 2020.

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