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Wandernde Geige in Klanglandschaften

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Erkki-Sven Tüürs Violinkonzert in Frankfurt uraufgeführt
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Erkki-Sven Tüürs Violinkonzert, ein gut halbstündiger Dreisätzer, hält sich äußerlich an die klassische Temporelation rasch-langsam-rasch, unterläuft sie aber mit abnehmender Ausdehnung der Sätze – der Schlusssatz misst nur noch knapp fünf Minuten, verwehrt dem Ganzen also ein Finalgewicht, im Mittelsatz findet sich eine heftige Aufgipfelung. Tüür reißt im Orchester immer neue Klangräume auf, erweitert und verengt, verdichtet und verdünnt sie. Der Komponist hatte offenbar ein hochvirtuoses Ensemble aus lauter Solisten im Ohr, doch die extreme Aufsplitterung lässt den Klang nirgends zerfallen, dient vielmehr einer komplexen Räumlichkeit und Farbfächerung. In den Ecksätzen rast die Zeit davon, im Mittelteil bleibt sie in Liegeklängen stehen, die sich von den tiefen Streichern aus verbreiten, im Flageolett in höchster Lage verschwinden.

Beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt wurde das Violinkonzert des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür uraufgeführt. Der Sender hatte Tüür den Auftrag zu diesem Konzert gegeben. Solistin war die niederländische Geigerin Isabelle van Keulen, es spielte das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt unter der Leitung seines Chefdirigenten Hugh Wolff. Erkki-Sven Tüürs Violinkonzert, ein gut halbstündiger Dreisätzer, hält sich äußerlich an die klassische Temporelation rasch-langsam-rasch, unterläuft sie aber mit abnehmender Ausdehnung der Sätze – der Schlusssatz misst nur noch knapp fünf Minuten, verwehrt dem Ganzen also ein Finalgewicht, im Mittelsatz findet sich eine heftige Aufgipfelung. Tüür reißt im Orchester immer neue Klangräume auf, erweitert und verengt, verdichtet und verdünnt sie. Der Komponist hatte offenbar ein hochvirtuoses Ensemble aus lauter Solisten im Ohr, doch die extreme Aufsplitterung lässt den Klang nirgends zerfallen, dient vielmehr einer komplexen Räumlichkeit und Farbfächerung. In den Ecksätzen rast die Zeit davon, im Mittelteil bleibt sie in Liegeklängen stehen, die sich von den tiefen Streichern aus verbreiten, im Flageolett in höchster Lage verschwinden.Der Gesamteindruck ist dramatisch, auf Auseinandersetzung innerhalb des Orchesterparts und im Verhältnis zwischen Solo und Ensemble angelegt. Aber Tüürs Absicht, „das sich ständig verändernde Verhältnis zwischen dem Solo-Instrument und der es umgebenden klanglichen Landschaft" als Spannungs-Movens für das Konzert zu nutzen, wurde bei der Uraufführung in der Alten Oper Frankfurt nicht allzu oft sinnfällig. Gewiss hat Tüür kein Violinkonzert der üblichen Sorte geschrieben, mit dominantem Solopart über Orchesterbegleitung, eher eine auch dynamisch groß dimensionierte Sinfonie mit obligater Violine, die fast pausenlos im Einsatz ist – mit schwierigsten Passagen aus Doppelgriffen, Läufen und Figurationen, wenn auch ohne avantgardistische Tendenzen.

Die Geigerin Isabelle van Keulen wurde doppelt zur Heldin: durch ihre atemnehmende, passionierte Virtuosität, aber auch durch den ihr auferlegten Verzicht auf Glanz in eigener Sache. Denn sogar ihr strahlkräftiger Ton, in Echo und Widerpart dicht in die Orchesterfaktur verwoben, konnte sich nur in wenigen Momenten wirklich emanzipieren – in der kurzen, dauerbewegten, vom Schlagzeug leise punktierten Kadenz im ersten Satz, vor allem in der innigen Kantilene zu Beginn des zweiten Satzes, die bald wieder eine Klangverdichtung hervorruft, in der die „Solo-Stimme" untergeht. Es ist anzunehmen, dass ein Konzert für geigende Pantomimen und Orchester nicht Tüürs Absicht war. Jedenfalls wirkte das seriell und modal konzipierte Werk, das sich in eher herber Klangmaterie nie neotonal anbiedert, in den Klangbalancen verschoben, was an der Akustik des Raumes, vielleicht auch an der jeweiligen Hörposition des einzelnen Besuchers im Saal gelegen haben mag. Nicht auszuschließen ist, dass sich die Verhältnisse in einer Rundfunkübertragung anders darstellen.

Im konzisen dritten Satz, der nach kurzer Atempause fast attacca auf den zweiten folgt, wurde schließlich sinnfällig, was dem Komponisten als spannend veränderliches Verhältnis zwischen Soloinstrument und umgebender Klanglandschaft vorgeschwebt haben könnte: In der sehr rhythmischen, flockig-lockeren Faktur, die wie ein Teppich aus verschlungenen Bewegungsornamenten wirkt, konnte Isabelle van Keulen endlich als Ariadne in der Klangarchitektur erscheinen – mit stets erkennbarem Glanztonfaden, der von den Tutti-„Wänden" vielfältig gebrochen, zurückgeworfen, geschluckt wird.

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