Konsequent gelangen in den Studioproduktionen der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Opern zur Aufführung, die an die sängerdarstellerische Sensibilität sehr individuelle Anforderungen stellen. Beim Besuch der Generalprobe zeigte sich: Dominick Argentos „Postcard from Morocco“ wird durch musikalische Vereinfachung und neue Handlung zum beckettnahen Kammerspiel, in dem das starke Ensemble eigene Berufsrealitäten stilisiert.
Was haben Wartezeiten an Bahnhöfen und Vorräume von Casting-Büros gemeinsam? Da schwelt nicht nur Hoffnung auf die Ankunft am Zielort oder im Olymp der Kunst. Vielmehr geht es erst einmal um den Adrenalinkick zum Einsteigen oder einem so brillanten Vorsingen, dass es zum begehrten Engagement führt. Folgerichtig macht Michael Höppner, als Chefregisseur des „Opera Lab Berlin“ spezialisiert auf Szenisches in lebensrelevanten Kontexten, aus Dominick Argentos absurdem Opernspiel ein Casting für die Opernproduktion „Postcard from Morocco“. Man kann dem jungen Ensemble der Opernklasse nur wünschen, dass die eigene Realität sich etwas milder erweist als diese neunzig Minuten.
Das 1971 am Cedar Village Theatre, Minneapolis in Minnesota uraufgeführte Neunzig-Minuten-Opus erfreut sich einer inzwischen etwas abflauenden Beliebtheit. Für Hochschulaufführungen ist und bleibt es ideal: Jeder Solopart, der mit sieben Rollen fast alle Stimmlagen fordert, hat „seine“ Szene. Das musikalische Material bietet Studierenden durchweg mehrschichtige Herausforderungen, weil Argento in tonaler Ausrichtung (was wäre das Musiktheater Amerikas ohne Weill und Bernstein…) ständig zwischen Parodie, Stil-Imitationen und echter lyrischer Emotion springt. Melodisches Sängerfutter gibt es stellenweise auch, aber vor allem viel gestisches Parlando. Für die zweite Studioproduktion des Studiogangs Musiktheater in dieser Spielzeit konzentrierte man das Klanggeschehen der originalen Kammerbesetzung auf zwei Klaviere. Schade ist das insofern, weil man diese Oper, für die sich Argentos Textdichter und Regisseur John Donahue auch durch Verse von Robert Louis Stevenson inspirieren ließ, so von der Poesie auf einen recht prosaischen Boden zieht. Jetzt müssen die jungen Sänger die gekappten Atmosphären fast ohne stützende Hilfe mit ihren Persönlichkeiten füllen. Das gelingt ihnen hier hochansehnlich.
Egal ob in der marokkanischen Bahnhofstation oder im Wartesaal zur Bühne: Die Trostlosigkeit der bunt ausstaffierten Aspiranten gewinnt noch mehr Farbe durch die fröhlich roten Stühle, auf denen auch das Publikum sitzen darf. Also mitten im stellenweise ermattenden Getümmel und so nahe an der Realität wie in der Eingangszone zum Arbeitsamt. Eine ganze Wand mit Sedcards zeigt die schier unendliche Chorus Line aussortierter Bewerber. Die silberne Treppe zur Galerie wird Gangway ins Allerheiligste. Aus dem Castingzimmer oben überträgt die Livecam nach unten.
Die Zeit verrinnt tröpfelnd. Das liegt nicht an der Musik, sondern dem geschickten Aufbau der szenischen Spannungsbögen, der von etwas ganz anderem erzählen als die ursprüngliche Handlung. Argentos Figuren hüten nämlich ihre Vergangenheit wie einen kostbaren Schatz, den ihnen niemand entreißen kann. Doch die von den jungen Künstler und Allroundern in der Black Box dargestellten Charaktere sind auf der Suche nach erfüllenden Augenblicken, an denen ihr Glück oder Scheitern hängt: Das Operettenpaar, als das sich Yeeun Lee und der wie immer beeindruckend markante Johannes Pietzonka mit Tanzschritten und Trällern in Schwung halten etwa. Oder Ayda-Lisa Agwa als Model, das als schwarzgefederter Engel mit Kotzanfällen der eigenen Elfenhaftigkeit den traurigen Tribut entrichtet.
Michael Höppner hat mit den Solisten eine Fülle kleiner Geschichten für diesen Kreativität abstumpfenden Wartesaal erfunden. Als Musiker kämpft Tobias Nyström heroisch gegen die Chipstüte im Automaten, bis diese platzend siegt. Benjamin Mahns-Mardy als Steptänzer gibt eine bärig sympathische Antibesetzung. Der Sprung zwischen Hoffnung und innerer Kapitulation wird zur Zerreißprobe, Optimismus um jeden Preis und Selbstausbeutung feiern Triumphe. Immer sitzt Angst in der Betriebsamkeit, die jede Mikrosekunde des Wartens mit Sinnhaftigkeit und Aktion verdichten soll. Lena Spohn als Sängerin ist in diesem Wirrwarr der Autosuggestion die einzige in sich Ruhende, Bewusste, Gefasste und geht gerade deshalb etwas unter.
Die Herausforderung für die jungen Solisten liegt vor allem darin, Argentos vitale Vokalsätze mit labiler Spannung zu unterminieren. Michael Höppners Regie meint das alles nicht realistisch. Überdeutlich zeigt das der immer mehr zur Hauptfigur aufschießende Antonio Fernandez-Brixis. Dessen Aufgabenfeld ist zwischen Security, Stage Manager und Künstlerseelsorge äußerst vielfältig, bis die Situation eskaliert. Er wird am Ende zum Opfer. Denn ihn erwürgen die Künstler im kollektiven Aggressionsschub mit dem eigenen Schlagstock, dann lassen sie ihn in einem Häufchen Weißes liegen. Waschpulver oder für den kreativen Rausch konsumierte Aufputschdroge…?
Gewaltig zu tun haben Fabio Costa, Damian Ibn Salem und Shengyu Gu mit dem Einstudieren der Partien und Koordinieren der musikalisch-szenischen Abläufe an den beiden Klavieren. Dabei entgeht ihnen und auch Berthold Schmid diesmal, dass die sonst bemerkenswert gute Textverständlichkeit in der englisch gesungenen Produktion abfällt. Im Pianopart gewinnen die groß ausagierten Wagner-Paraphrasen üppigen Aplomb, doch Argentos ironische Blitze spiegeln sich in Michael Höppners Mysterium der künstlerischen Arbeitswelten seltener. Ein harter Brocken also und eine wertvolle Erfahrung: Kompliment vor dieser Eigenleistung des Ensembles, das zwischen Musik und Szene Erstaunliches an psychischer Kreativität und vokaler Potenz aufbietet!
- Vorstellungen: 26., 27., 28., 29. Januar 2018 – Black Box, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ am Dittrichring