Intendant der Salzburger Festspiele sein: Das ist kein gemütlicher Posten. Kunstspeise für sechs lange Wochen bereitstellen, eine Viertelmillion Tickets unter die Leute bringen, siebzig Prozent eines Sechzig-Millionen-Etats selbst erwirtschaften, alte Sponsoren umschmeicheln, neue gewinnen, gegen einen Aufsichtsrat – das Festspielkuratorium – streiten, dem alles als viel zu viel erscheint, schließlich noch hässliche Kritiken lesen. Ist das ein Traumjob?
Für Alexander Pereira offenbar schon. Der einstige Direktor des Wiener Konzerthauses und danach zwei Jahrzehnte Intendant der Züricher Oper, die er zu einem Erfolgsmodell machte, träumte immer davon, einmal den Intendantenthron des weltgrößten Festivals österreichischer Provenienz zu besteigen. Jetzt war es soweit. Alexander Pereira hat seine ersten Salzburger Festspiele hinter sich gebracht. Die österreichische Kritik behandelte ihn wohlwollend, auch deshalb wohl, weil er der erste Österreicher auf dem begehrten „Thron“ ist, die deutsche Kritik – die vor allem – konstatierte eine ungenügende Programmdramaturgie. Mortier, Landesmann, Ruzicka, der Lokalmatador Markus Hinterhäuser, der unter Flimm die Konzerte programmierte und sogar für ein Jahr Intendant war – wo sind deren Konzepte geblieben? Pereiras Vorliebe für Kulinarik und große Namen wurde eifrig und bissig getadelt. War es wirklich so schlimm?
Wer die gesamte Zeit über in Salzburg weilte und einen großen Teil des Opern- und Konzertangebots wahrnahm, muss zu einer anderen, differenzierteren Beurteilung der ersten Pereira-Festspiele gelangen. Dass Pereira dem Reigen der großen Opernpremieren eine einwöchige „Ouverture spirituelle“ voranstellte, erwies sich in mancherlei Hinsicht als glückliche Idee. Der eher besinnliche Auftakt lenkte die Aufmerksamkeit vor allem auf das Wichtigste: die Musik. Und auf deren Bedeutung und Funktion für die jeweiligen Religionen. Neben bekannten geistlichen Werken aus unserer Welt, erhielt hier beim ersten Mal Israel den Vortritt. Das Israel Philharmonic unter seinem Chefdirigenten Zubin Mehta stellte in drei Konzerten dazu unter anderem zwei große Chorwerke vor: Ernst Blochs „Avodath Hakodesh“ und Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ – zwei beeindruckende, auch überwältigende Begegnungen mit einer Musik, die ihre Kraft aus dem Glauben gewinnt. Pereira möchte in den kommenden Jahren jeweils eine andere Religion musikalisch präsentieren – vielleicht eine etwas zu schematisch und lehrhaft angesetzte „Dramaturgie“. Das Spirituelle in der Musik ist nicht nur auf geistliche Musik beschränkt, es überwölbt auch Musik außerhalb des liturgischen und religiösen Raumes. Wenn Maurizio Pollini, wie diesmal, die drei letzten Beethoven-Sonaten spielt oder Daniel Barenboim die drei späten Schubert-Sonaten, dann ist das Spirituelle ebenso greifbar und erfahrbar wie bei Bruckner, dessen neunte Sinfonie die Wiener Philharmoniker unter Bernard Haitink mit einer unfassbaren geistig-sinnlichen Erfüllung gestalteten. Das sind nur drei Beispiele dafür, dass sich Festspiele auch im kurzen Augenblick einer Stunde oder eines einzigen Konzerts ereignen können.
Salzburg modern?
Bei den Salzburger Festspielen hat es immer schon „moderne Musik“ gegeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es vor allem der Komponist Gottfried von Einem, der sich für die damalige Moderne einsetzte, nicht ohne dafür auch Missbilligung zu erfahren. Erst nach Karajans Tod setzte mit der Ära Mortier eine positive Änderung ein. Es ist vor allem das Verdienst des damaligen Konzertchefs Hans Landesmann, dass die Neue Musik zu einem festen, selbstverständlichen Teil des gesamten Festspielprogramms wurde.
Die wichtigsten Komponisten der „Zweiten Wiener Schule“, der Nachkriegszeit seit 1945 bis hin zur unmittelbaren jeweiligen Gegenwart fanden ihren angemessenen Platz im Festspielkonzept. Dass das alternative „Zeitfluss“-Festival von Markus Hinterhäuser von Landesmann fest in das große Festspiel eingebunden wurde, verlieh dem Ganzen einen unverwechelbaren Anflug von Avantgarde.
Nach Landesmann haben Peter Ruzicka und nach ihm Intendant Jürgen Flimm mit Markus Hinterhäuser als Konzertchef diese Linie fortgesetzt. Und es wäre mehr als ungerecht, jetzt Alexander Pereira vorzuwerfen, er würde diese für die Salzburger Festspiele wichtige und zukunftssichernde Programmlinie in der Gesamtkonzeption abbrechen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Musik der Gegenwart findet auch bei Pereira ihren angemessenen Raum, in dem sie zugleich mit den anderen, „historischen“ Komplexen zu korrespondieren vermag. Die abendländische Musikgeschichte ist bei allen Umbrüchen letztlich durch eine große Kontinuität bestimmt, die man allerdings nur aus einer gewissen geschichtlichen Distanz zu erkennen vermag.
Für große Systematisierungen ist Alexander Pereira nicht unbedingt zu haben. „Kontinente“ oder „Szenen“, jeweils einem Komponisten reserviert, engen ihn ein. Er muss sich ja auch irgendwie von Landesmann oder Hinterhäuser absetzen. So reserviert er, ohne Kategorisierung, dem Komponisten, Dirigenten und Oboisten Heinz Holliger eine umfangreiche Konzertreihe, in der sich dieser umfassend präsentieren konnte. Das waren an- und aufregende Konzerte. Die Aufführung von Holligers „Scardanelli“-Zyklus in der Kollegienkirche unter Leitung des Komponisten gehörte gerade in der leisen Versenkung in die Hölderlinschen Texte zu den geheimen Höhepunkten dieser Festspiele. Dass im Zusammenhang mit Holliger auch der polnische Komponist Witold Lutoslawski in mehreren Konzerten eine neue Aufmerksamkeit erfuhr, zählte ebenso zu den Verdiensten des diesjährigen Festspielkonzertangebots.
Und noch zwei große Ereignisse sollen nicht unterschlagen werden: die Auftritte John Eliot Gardiners mit den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir in Haydns „Schöpfung“ und einem Abend mit Kirchenmusik des „Goldenen Zeitalters“ in der Regierungszeit Elisabeth I. – Werke von Thomas Tallis, William Byrd, Thomas Tomkins, Robert White und Peter Philips in der Kollegienkriche. Das war wirklich „spirituell“ (siehe unser Bild auf dieser Seite).
Und zum zweiten: die beiden Konzerte der Camerata Salzburg zum Andenken an ihren langjährigen Mentor und Chefdirigenten Sándor Végh: Da erlebte man bei Werken von Schubert und Bartók, was intelligente und geistig inspirierte Musikkultur ist.
Und die Oper?
Die Oper spielt bei den Salzburger Festspielen die wichtigste Rolle. Sie lockt weltweit die Melomanen an, die jeden Höchstpreis bezahlen, um Weltstars zu erleben. Aber: War da was? Ja, doch: Die „Zauberflöte“ mit Nikolaus Harnoncourt und seinem Concentus Musicus, das war schon orches-
tral spannend. Strauss’/Hofmannsthals „Ariadne“ in der von Sven-Eric Bechtolf nach der Urfassung neu gefassten Gestalt: ein interessantes, etwas langatmiges Experiment, was aber für Salzburg legitimiert ist. Wo sonst? Und Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ – darüber wurde in der letzten Ausgabe der nmz ausführlich berichtet.
Die anderen Opernaufführungen demonstrierten einmal mehr, wie sehr doch auch ein Festspiel wie Salzburg davon abhängig ist, welche Regisseure, Dirigenten, Bühnenbildner, Stars an den Opernhäusern der Welt für Aufsehen sorgen – ein oft zweifelhaftes Aufsehen, was dann auch bis Salzburg durchschlägt. Die fatale „Bohème“-Aufführung mit Anna Netrebko (sie sang gut, aber das allein genügt doch wohl nicht?) mag dafür als schlechtes Beispiel gelten.
Um dem meist langsam ermattenden Festspielende entgegenzuwirken, hatte Alexander Pereira sich einen großen Festspielball ausgedacht. Das war wohl ein Erfolg, auch finanziell. Aber es gäbe auch andere, künstlerisch wertvolle Möglichkeiten, um in der letzten Festspielwoche das Geschehen noch einmal hochzureißen. Vielleicht ein sinfonisches Mahler-Festival nach dem Vorbild der Amsterdamer Mahler-Woche. Die vier, fünf großen Orchester, die dafür notwendig wären, sind in Salzburg in der Regel gerade am Ende präsent: Berliner Philharmoniker, Wiener Philharmoniker, Concergebouworkest Amsterdam, in diesem Sommer noch Leipziger Gewandhaus – und auch das benachbarte Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks wäre ein würdiger, ebenbürtiger Partner für ein grandioses Mahler-Festspiel im Festpiel. Und im Jahr darauf das Ganze für Anton Bruckner. An Ideen sollte es Alexander Pereira doch nicht ausgehen.