40 Jahre dauern Wüstenwanderungen. Wenn eine Konzertreihe für neue Musik ebenso lange dauert, um nach eben diesen 40 Jahren und drei „Zugaben“ aufzuhören, stellen sich Fragen: Sind die Beteiligten des langen „Umherirrens“ müde und „das ganze Geschlecht aufgerieben“? (4. Mose 32, 13) Oder ist man womöglich und endlich ins „gelobte Land“ eingetreten?
„3 mal neu“-Erfinder Oskar Gottlieb Blarr hat dazu seine eigene, ziemlich klare Auffassung. „Ich habe meine Vorstellungen weitgehend umgesetzt und Neue Musik ist kein Notstandsgebiet mehr.“ Ein „Nachwort“ zum abschließenden 40. Zyklus. Klipp und klar. Wiederabgedruckt in der jetzt erschienenen „3 mal neu-Chronik“, einer opulent mit Fotografien, Programmzetteln, Plakatentwürfen, Partiturausschnitten, einem Komponisten-Register und jeder Menge Presseartikeln reich bebilderten, mit viel Liebe zusammengestellten Dokumentation. Eine mit markantem Untertitel: „Neue Musik im Hinterhof“. Gemeint ist die evangelische Neanderkirche, für die die katholischen Düsseldorfer Stadtväter der protestantischen Minorität im 17. Jahrhundert leider nur einen Bauplatz abseits der Straße anbieten konnten. Was angesichts der heute zur Radaumeile verkommenen Bolkerstraße zweifellos ein wahrer Segen ist. Dialektik der Geschichte.
Notstand
Hinterhof – das hatte 1972, als der junge Kantor und Bernd-Alois-Zimmermann-Schüler Oskar Gottlieb Blarr die Reihe aus der Taufe hob, freilich noch eine andere Bedeutung. Und Blarr machte daraus auch keinen Hehl. Zum Eröffnungszyklus im November 1972 – gespielt wurden Werke von Willy Giefer, Juan Allende-Blin, Dieter Schnebel und Blarr selbst – konfrontierte Blarr das Publikum unverblümt mit seiner Einschätzung, dass „Neue Musik in Düsseldorf ein Notstandsgebiet“ sei. Man darf unterstellen, dass die Anwesenden nicht nur ziemlich genau wussten, was damit gemeint war, sondern auch, aus welcher Ecke ein solch politisch-garstig Bild rührte. Immerhin war es noch nicht so lange her, dass eine große Koalition in Bonn unter Änderung des Grundgesetzes „Notstandsgesetze“ verabschiedet hatte. Die damit verknüpften „Notstandsgebiete“ auf das Reich des Schönen, Wahren, Guten anzuwenden, war sicher alles andere als der gewohnte Honoratiorenton. Und doch traf es die Sache. Noch Jahre später, erinnert sich der Rezensent, konnte sich ein städtisches Sinfonieorchester ungestraft in Renitenz üben, wenn es ein Komponist namens Mauricio Kagel wagte, mit eigenen Werken ans Pult zu treten.
Vom Kopf auf die Füße
Es bei diesem Notstand nicht einfach zu belassen, sondern dem diskreditierten Schmuddelkind zeitgenössische Tonkunst eine Heimstatt zu geben, einen Ort, an dem sie gespielt und gehört werden konnte (Hochschule und städtisches Konzerthaus waren noch lange nicht soweit) – dies ist unstrittiges Verdienst dieses ziemlich ungewöhnlichen Kantors. Einer, der als Mai-Kind (6.5.1934) in Sandlack, Kreis Bartenstein im damaligen Ostpreußen zur Welt gekommen war, 1952 ein Kirchenmusik-Studium in Hannover begonnen und 1961 seine Kantorenstelle in Düsseldorf angetreten hatte, dortselbst seitdem viel angefasst und manches bewegt und in Sachen Neue Musik eben nicht auf stur und/oder Durchzug geschaltet hat. Siehe allein diese witzige Namensgebung, wozu man damals auch gern „umfunktionieren“ sagte. Wie auch immer – dies des Pudels Kern: Aus einer von Fernsehunterhalter Wim Thoelke 1970 erfundenen Quiz-Sendung (Ältere mögen sich erinnern: Walter Spahrbier, Max Greger plus Bigband, ein ZDF-Fernsehballett sowie Gaby und Rabea, die stets passend zueinander gekleideten Thoelke-Assistentinnen) – aus „Drei mal Neun“ machte Blarr kurzerhand „3 mal neu“: Drei Konzerte pro Saison mit zeitgenössischer Tonkunst im Hallraum der Kirche. ZDF-Kulturindustrie vom Kopf auf die Füße gestellt.
Was natürlich seine Vorgeschichte hatte. Zusammen mit der Organisten-Kollegin Almut Rößler hatte Blarr bereits große Feste für Olivier Messiaen und Igor Strawinsky veranstaltet und es nebenbei auch fertig gebracht, dass der Fortner-Schüler und neu berufene Hochschulprofessor Günther Becker von der Evangelischen Kirche einen Auftrag für ein großes Oratorium erhielt, was seinerseits ein (so der Werktitel) „Magnum Mysterium“ gewesen war.
Seltene Kreuzung
Was alles so möglich war – wer dies wissen will, für den lohnt sich der Blick in diese „Chronik“ zur „Neuen Musik im Hinterhof“, worin sich vieles findet, übrigens auch ein etwas spitz formulierter, durchaus Widerspruch herausfordernder Kurz-Essay zur Geschichte der Neuen Musik. Beim MuBi-Ortstermin (MuBi für städtische Musikbibliothek am Bertha-von-Suttner-Platz) mit viel Musik und vielen Worten anlässlich der Vorstellung dieser stattlichen „Chronik“ zu 40 Jahren „3 mal neu“, wurden die drängendsten Fragen dann allerdings leider ausgeklammert. Selbst wenn es ja stimmen mag, dass Neue Musik kein Notstandsgebiet mehr ist, wieso hört eine erfolgreiche Düsseldorfer Konzertreihe einfach auf zu bestehen? Wegen Erreichen der Altersgrenze? Ein Fall von Konzertreihen-Frühverrentung?
Wär’ doch schön gewesen, es wäre am Vorabend des 80. Geburtstages von „OGO“ alias Oskar Gottlieb Blarr zu einem Stabwechsel gekommen, mit anderen Worten: zu einem Geburtstagsgeschenk nach Maß. Denn dass sie überflüssig geworden wäre, eine Reihe, die in ihrer glücklichen Verquickung von Kirche und Kunst zu den eher seltenen Kreuzungen zählt, wird man ja kaum behaupten können. Hat keiner gefragt? Hat sich niemand gemeldet?
Buch-Tipp
Oskar Gottlieb Blarr: 3 mal neu – Chronik über vierzig Jahre Neue Musik im Hinterhof 1972–2011. Schriftenreihe des Freundeskreises der Stadtbüchereien Düsseldorf, Bd. 5., Düssel-Druck und Verlag GmbH, 2014, 398 S., zahlreiche Abb.