Auch ein großes Neue-Musik-Festival wie Ultraschall Berlin (das in seiner 25. Ausgabe freilich nur noch halb so groß ist wie in seinem ersten Jahrzehnt) kann nur einen subjektiven Eindruck von „Aktualität“ vermitteln, einen zeitlich und stilistisch unscharfen Querschnitt.
Was bleibt, wer kann es sagen?
Seit jeher kein „Uraufführungsfestival“, stellt es zumeist bereits bewährte Werke vor, und gibt so den künstlerischen und inhaltlichen Herzensangelegenheiten der Komponist*Innen freie Bahn. Veranstaltet von den beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Berlin, Deutschlandfunk Kultur und RBB, ist Vielfalt das Ziel, glückhaft gefördert vom Kuratorenteam: Rainer Pöllmann für DLF-Kultur neigt den experimentelleren und politisch aufgeweckten Ansätzen zu, während Andreas Göbel (RBB) die neue Musik eher in der Tradition der Klassik sieht. Das sichert ein einigermaßen kontinuierliches Spektrum.
Die beiden ersten Orchesterkonzerte, die das Festival in Schwung brachten, zeigten den Unterschied deutlich. Doch in kurzer Zeit viel zeigen zu wollen, verengt den Raum fürs Einzelne. Göbels Programm mit dem DSO unter Lin Liao, das man „Modelle des Komponierens“ hätte überschreiben können, gab der jeweiligen charakteristischen Stilistik nur eine Chance. Während Alexandra Filonenko Orchesterturbulenzen mit elektronischem Gewitter verschmolz, hatte das von Nina Šenk schon 2010 komponierte „Dialogues and Circles“ überraschend die Struktur eines Mozartschen Solistenkonzerts, bei dem das Orchester die Energie aufbaut und die solistischen Kapriolen, hier Trompeter Simon Höfele mit freejazzartiger Virtuosität, anfeuert, und beide sich gegenseitig hochschaukeln. Das ist übersichtlich, vermittelbar und erlebnisreich fürs Hören.
Krass gegensätzlich dann das von Pöllmann verantwortete Programm des RSB Berlin unter Vladimir Jurowski, der einer ist, der Stellung bezieht, und zum Beispiel nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine all seine Moskauer Aktivitäten hinwarf. Sein Konzert widmete sich der Herausforderung an die Musik, Leid und Trauer zu schildern, Wut und Hoffnung. Selbst wenn man darüber im Unklaren gelassen worden wäre, dass Olga Rayevas „Am Meer“ für Bajan und Orchester dem Schimmern des Asowschen Meers und der Erinnerung an die schöne, von Russland vernichtete Stadt Mariupol gewidmet war, wären die gezogenen Klänge, die zweiflerischen Abbrüche als schmerzlich wahrgenommen worden. Die Iranerin Farziah Fallah schrieb ihr „Traces of a burning mass“ im Andenken an Tausende, die in ihrer früheren Heimat aufgrund eines absurden Rechtsempfindens im Gefängnis schmachten. Das Stück klingt nicht maßgeblich anders als das vorerwähnte, ist ihm ähnlich wie ein Mahnmal dem Grabmal. Es ist nötig zu wissen, was jeweils dahintersteht. Hatte „A Mark of our breath“ von der ebenfalls aus Teheran gebürtigen Elnaz Seyedi der unvermeidlichen Zerstörung der Natur im Zuge der Jahreszeiten mit äußerst sensiblen Klangmitteln, etwa stimmhaft geblasene Posaunen, nur eine unterschwellige Analogie zum Niedergang von Menschheit und Menschlichkeit geschaffen, war ihre anderntags im Heimathafen Neukölln (wie immer fand Ultraschall an mehreren Orten statt) präsentierte Multimedia Performance „PS: and the trees will ask the wind“ physisch und psychisch belastend. Das Wesen der Folter, dargestellt mit Krach und drohender Stille, leisen kryptischen Klangaktionen mit Geige, Paetzold-Bass-Blockflöte und Malerspachtel sowie Elektronik überstiegen die Wirkung reiner Musik bei weitem. Obwohl die Videosequenzen nur Blicke aus dem Gefängniszellenfenster und keine explizite Gewalt zeigten, war die Anklage gegen den Terror des iranischen Regimes gegen seine Bürger überdeutlich.
Die Tendenz des ersten Sinfoniekonzerts, das hohe Niveau der Kompositionskunst zu zeigen, verfestigte sich in den meisten der kammermusikalischen Konzerte. So auch bei der viel avantgardistischer ausgerichteten MAM, Manufaktur aktueller Musik (im Radialsystem V), wo in Sarah Nemtsovs „skotom.orchesterstueck“ zwei Dreiergruppen – Instrumente vs. Live-Elektronik – immense Steigerungen erzeugten, oder in „Darvag“ von Karen Keyhani zwischen der persischen Langhalslaute Tar und westlichen Instrumenten mit den mikrotonal abweichenden Skalen der persischen Dastgahs (Modi) eine fremde Art von Harmonie erzielt wurde. Wie wertvoll aber Komponistenporträts sind, zeigte das Konzert mit aus den Jahren 1948 bis 1950 stammenden Frühwerken von Jean Barraqué, das ihn an der Schwelle zwischen Impressionismus und Serialismus zeigte – fast ausschließlich mit Liedern! Die „Trois Melodies“ von 1950 zeigten, wie schwer es emotionalem Gesang im abstrakten Gerüst des Serialismus wurde – das Lied hörte auf zu „funktionieren“.
In dem völlig anders gearteten Konzert mit Sarah Maria Sun und Jan Philip Schulze am Klavier trat ein anderes Modell von Kunstlied zutage – Thema Familienleben, vorwiegend heiter, aus elf verschiedenen Federn von 1947 bis heute. Diese Lieder – Couplets zuweilen – setzten nicht die Tradition von Webern, Messiaen und Boulez fort, sondern schlossen eher an Schönbergs „Pierrot Lunaire“ an, besonders bezüglich Suns körperlichem Ausdruck, der daraus lauter kleine Opern machte mit Spaß am Absurden. Genau da schloss Gordon Kampes Liebesliederzyklus „O Seufzen, Heulen, Herzensknall“ von 2022 mit Sopran Lini Gong und Countertenor Daniel Gloger und dem Ensemble RADAR an, eine Reihe von Arien und Duetten auf Texte des frühen 17. Jahrhunderts von Opitz, Fleming und anderen, die formal und inhaltlich gleichermaßen gewagt, gar frivol sind. Den verdrehten Texten heftete er entsprechende Musiken – funktionierende! – an, mit barockem Witz und unbekümmerter Stilistik, vielfältig wie ein Katalog seiner Techniken.
Was bleibt, wer kann es sagen? Das ästhetisch meisterhaft ausgefeilte Werk oder der vielseitig scheiternde Griff nach den Sternen? Das zu zeigen, war auch dieses Jahr die vornehmliche Qualität von Ultraschall Berlin.
- Die Aufnahmen vom Festival Ultraschall Berlin sind bis Mitte Februar abrufbar unter https://ultraschallberlin.de
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!