Ende Mai startete die Hamburgische Staatsoper wieder mit öffentlich zugänglichen Vorstellungen. Als eine der ersten Produktionen und überhaupt erste Premiere in Präsenz nach monatelangem Lockdown stand Händels „Agrippina“ auf dem Spielplan – in einer Inszenierung von Barrie Kosky, die bereits 2019 bei den Münchner Opernfestspielen am Prinzregententheater aus der Taufe gehoben wurde. Mit reichlich Besetzungsänderungen bot diese Produktion nun für viele den ersten Schritt zurück in den Theatersaal.
Wenn man nicht gerade Händel über alles verehrt, ist „Agrippina“ keine leichte Kost. Erliegt man nicht jeder Nuance der Rezitative, jeder Figuration der Arien, so müssen Längen eingestanden werden. Selbst eine gekürzte Fassung fordert schließlich dreieinhalb Stunden reine Spielzeit ein. Andererseits: Was eignet sich besser, um der Passion, die so lange ausblieb, seine Hingabe zu beweisen – auch und vor allem vor sich selbst – als ein Werk, das so viel Überschuss bietet? Gerade weil es sich nicht anbiedert, weil es der kurzen Aufmerksamkeitsspanne zuwiderläuft, liefert es den idealen Test: Wie sehr brauche ich Oper? – bzw. habe ich Oper gebraucht? Das Ergebnis: Lasse ich mich darauf ein, werde ich belohnt mit etwas, das alles übertrifft, was jenseits der Bühne geschieht. Wie immer: Oper enttäuscht nie wirklich. Denn die Entscheidung, einen Abend im Publikum zu verbringen, ist am Ende immer die richtige gegenüber jeder Alternative.
Stimm-Klang-Diversität
Zumal ein solches Gesangsensemble nur begeistern kann. Der Titelpartie leiht Anna Bonitatibus dramatische Verve. Markerschütternde Kraft und schwungvolle Bewegung spiegeln musikalisch die Charakter-Palette von eiskaltem Kalkül bis zum machtvollen Temperament. Julia Lezhneva als Poppea steht dieser Art von Vielseitigkeit in nichts nach: Der erste Ansatz im Pianissimo schwillt makellos kontinuierlich an und eröffnet eine stimmliche Bravourleistung, die durch Agilität besticht.
Besonders spannend in der Besetzung: drei Countertenöre, die grundlegend verschiedene Auslegungen dieses Stimmfachs aufzeigen. Die Figur des Nerone porträtiert Franco Fagioli als Absonderling: Hin- und hergerissen zwischen jugendlich ziellosen Herrschaftsgelüsten und sexuellen Phantasien – auch inzestuös gegenüber der eigenen Mutter Agrippina – bleibt er doch stets nicht mehr als Spielball im verschwörerischen Gesamtgeflecht. Stimmlich funkelt da ein einzigartiges Farbenspiel verschiedentlich schimmernder Sopranhöhen. Wie anders die Verwendung der Randstimme doch wirken kann, zeigt Christophe Dumaux in der Partie des Ottone: Stets kraftvoll greift sein Alt bestimmt ins Geschehen, lässt keinen Platz für Wankelmut. Ganz anders zeichnet Vasily Khoroshev den Lakaien Narciso in wechselnder Stimmgebung mal mit direktem Ton listig, mal bewegt schreckhaft.
Dem schließt sich Renato Dolcini an, der als anderer Handlanger des Hofs, Pallante, mit seiner Bassarie zu Beginn souverän brilliert, um anschließend die Figurenentwicklung ins Karikatureske durchzugestalten. Gesetzte Konstante um die herum sich alles dreht und entspinnt bilden Diener Lesbo, sonor durch Chao Deng verkörpert, und natürlich Herrscher Claudio, den Luca Tittoto mit etwas flachem Timbre, aber mächtig felsenfester Tiefe gibt. Im Graben führt Riccardo Minasi, zeitweise selbst an der Violine mit dabei, das Ensemble Resonanz zur musikalischen Verschmelzung, lässt Esprit aufflammen, gelangt zwar auch mal ins Schwimmen, doch reagiert darauf stets besonnen, so dass sich alles in wohltönende Form ergießt.
Ein Käfig voller Intrigen
Das Bühnenbild von Rebecca Ringst baut klare Struktur, wie Kosky es für seine ausgefeilte Personenregie zu nutzen weiß. In der ersten Hälfte bilden die drei begehbaren Elemente eine buchstäblich geschlossene Einheit. Sterile Ausleuchtung und cleanes Interieur generieren Büro-Atmosphäre – wenn die Jalousie runterfährt, werden die kargen Gänge und Räume zum Gefängnis. Nach der Pause löst sich das Gebilde auseinander: ein einzelner Gang mit Treppe empor verweist darauf, dass nun Individuen im Fokus stehen. Grelles Aufleuchten – eine kurze Etappe führt in die profillos modern designte Bar, wo Poppea mehr angewidert überfordert als mit Freuden die Männer gegeneinander auszuspielen sucht. Schließlich formen die drei Bühnenelemente ein „U“ und der Eindruck einer Arena drängt sich auf, in der es konsequenterweise zum Showdown kommt. Nach kurzem hin und her und fast würde alles scheitern setzt sich doch Agrippinas Wille durch: Ihr geliebter Sohn Nerone wird Cäsar. Dass die hier so brillant dargestellte Veranlagung zum Wahn Kaiser Nero als Schrecken in die Geschichtsbücher eingehen lassen wird, betrifft Agrippinas nicht mehr, denn ihr Leben neigt sich dem Ende zu.
Koskys immer wieder gekonnt ausgespielter Witz driftet auch mal in gewaltvoll comichafte Überzeichnung ab. Doch es ist diese letzte Szene, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Als Agrippina die Arme für ihren gekrönten Sohn ausbreitet, läuft Nerone vorbei und auch Gatte Claudio wendet sich nach förmlichem Handkuss ab. Alle gehen ab und nur sie allein kauert zuletzt auf einem Stuhl, während sich langsam die Jalousie schließt. Agrippina kann ihrem eigenen Spiel der Macht nicht entkommen. Kosky beweist, dass in diesem Werk eine Frauenfigur mit Tiefe steckt, wie sie auch bei männlichen Herrschercharakteren selten ist. Er zeigt es in seiner üblichen Manier der klaren Bildsprache – es geht auf. Am treffensten lässt sich das so formulieren: Ein weiterer Kosky ist hier in seinem einwandfreien Handwerk vom Band gelaufen.