Im Sommer entfesselte Philipp Stölzl am Bodensee mit cineastischer Bilderopulenz und Interpreteneigensinn das große „Freischütz“-Märchen. Auch sonst stachelt der in über zweihundert Jahren zur deutschen Nationaloper avancierte Repertoirerenner „Freischütz“ immer wieder die Lust zum Gegenwartscheck der Vorlage an. In Hamburg hatte Peter Konwitschny vor fünfundzwanzig Jahren mit seiner Inszenierung sogar die Brücke über die Schlucht der Deutschen Teilung hinweg geschlagen. Sein im wesentlich beibehaltend weiterentwickelter „Freischütz“ hatte nämlich schon 1983 in Altenburg die Gemüter bewegt. Und Ende der Neunziger, schaffte es das eben auch im Nord-Westen des nun vereinten Landes, in Hamburg.
Was lange währt wird endlich gut: von Corona ausgebremster Kriegenburg-„Freischütz“ feiert an Staatsoper Hamburg Premiere
Mit einer coronabedingten fünfjährigen Verspätung folgt nun eine Neubefragung dieses hitgespickten Repertoire-Dauerbrenners von Carl Maria von Weber durch Andreas Kriegenburg. Der mit mehreren Hamburger Bühnen bestens vertraute, in Magdeburg geborene Schauspiel- und Opernregisseur gehört zu den produktivsten und anregendsten Vertretern seiner Zunft. Seine Genrezweigleisigkeit kommt in dieser Inszenierung nicht nur seiner präzisen Personenführung zu gute, sondern auch seinem Zugang zu diesem populären Werk. Er nimmt nämlich neben der Musik auf geradezu verblüffende Weise auch das Libretto durchaus ernst.
Nicht nur, indem er aus dem Spottchor auf Max, aus der Wolfsschlucht, dem Jungfernkranz, dem Jägerchor oder auch aus Ännchens Schwärmerei für den Schlanken Bursch oder ihrer Ballade vom Kettenhund Nero kleine witzig hintergründige Minidramen im Stück macht. Beim „Freischütz“ hat es sich geradezu eingebürgert, den Ruf als deutsche Nationaloper, der dem Stück seit seiner Uraufführung 1821 zugewachsen ist, auch vorzuführen und den Alptraumabgrund der metaphorischen Wolfsschlucht als Metapher für die deutschen Geschichte zu enthüllen. Was keineswegs abwegig ist, denn der Feuerschein des im dreißigjährigen Krieg brennenden Magdeburg flackert im Hintergrund der Geschichte direkt in die Zeit der nationalen Selbstfindung hinein, in der die Oper entstand.
Heute geniert man sich ja (so ähnlich wie beim „Fidelio" oder auch der „Zauberflöte") oft auch für das Libretto von Johann Friedrich Kind. So lässt man häufig vieles weg und modernisiert nach Herzenslust daran herum, auf das möglichst wenig davon übrig bleibe. Hier und da machen das Kriegenburg und sein Team auch. Aber – und das ist das unkonventionell Konventionelle daran – sie nehmen diesen Text dabei ernst und verstecken ihn nicht wie den sprichwörtlich peinlichen Onkel an der großen Familientafel: Sie versuchen, aus der Mischung von Gesprochenem und Gesungenem emotionales Kapital für die Profilierung ihrer Figuren zu schlagen. Im Programmheft verweist Kriegenburg darauf, dass dieser Kontrast zwischen Gesungenem und Gesprochenem zwar für das Genre Oper gefährlich ist, aber der Musik durch die Dialoge beim Gesang zu „größerer Tatsächlichkeit von Psychologie“ verholfen wird. Andererseits bieten die gesprochenen Passagen eine „ungeschützte Präsentation von Verletzlichkeit der Figuren“, die auf den Gesang zurückwirkt. Was als Anspruch etwas kompliziert klingt, wird auf der Bühne allemal im Wechsel zwischen Gesang und Dialogen eingelöst.
Am überzeugendsten gelingt das Alina Wunderlin mit ihrem quicklebendig bezaubernden Ännchen. Aber auch Maximilian Schmitt als eher lyrischer Max und Julia Kleiter als souverän in ihren großen Arien Emotion verströmende und dann mit Ännchen sehr lebensnah verbundene Agathe profitieren von dieser exemplarisch ernst genommenen Mischung der zwei emotional verschiedenen Sphären der Figurenzeichnung. Mit dem grandiosen Samiel von Clemens Sienknecht kommt noch eine dritte Dimension hinzu. Dieser teuflisch gute, blass geschminkte Zwanzigerjahre-Conférencier würde auch in einer Robert-Wilson-Inszenierung nicht auffallen. Er bewegt sich hier, fabelhaft durchchoreografiert, nicht nur wie aus einer anderen Welt durch die Szene, sondern verkörpert sozusagen den finsteren Teil einer Psychologie, deren helle Seite von einem (verdächtig) weiß strahlenden Eremiten repräsentiert wird. Diese beiden stehen am Ende des (wann gab es das schon mal?) zelebrierten Happyends an der Rampe. Mit einem gemeinsamen Blick ins Publikum und als Schlusspunkt einer Inszenierung, deren Blick sich ins Innere des rauf und runter inszenierten Stückes gerichtet ist. Natürlich geht es dabei auch um die Psyche der oder des Deutschen, wenn man mal unterstellt, dass es das tatsächlich gibt und auf untergründige Weise latent ist.
In Harald B. Thors (mal wieder) kongenialer Bühne ist der vielbeschworene deutsche Wald längst zu Brettern verarbeitet. Sie begrenzen den Bühnenraum. Hinten in der Mitte sitzt erst der Riesenvogel, der Max wie ein Weihnachtsbraten im Ganzen in die Arme fällt. Dann die weiße Taube, die allerdings bleibt, wo sie ist, denn Agathe sinkt ja beim Probeschuss zu Boden, so dass sich erst mal alle tief geschockt kollektiv abwenden. Und dann natürlich ihre Rückkehr unter die Lebenden feiern. Wenn sich die locker gefügte Bretter-Rückwand dreht, dann fährt Agathes Welt nach vorn. In der Mitte das Bett, mit Kruzifix oben drüber. Links ein Fenster mit Blick in den unvermeidlichen (deutschen) Wald. Rechts ein Riesenexemplar des rebellischen Erbförsterportraits. Diese simpel wirkende Raumidee enthüllt sich für die Wolfsschlucht als ziemlich genial. Die Seitenwände schieben sich tatsächlich schluchtartig zusammen und können nach hinten abknicken. Wie sich Max bedrängt fühlt, wird nicht nur dadurch, sondern vor allem durch die zehn Alteregos des diabolischen Anzugträgers Samiel offenkundig. Erst tragen sie tatsächlich „der Mutter Geist“ und Agathe auf ihren Schulter. Und dann dringt ein gleißendes Licht aus ihrem Inneren durch den geöffneten Mund... Es ist eine ziemlich intelligente Wolfsschlucht, die Kriegenburg hier entfesselt. Ganz und gar nicht märchenhaft gespenstisch, sondern alptraumhaft gegenwärtig.
Diese Konfrontation des überforderten Einzelnen (Max) durch die (Leistungs-)Gesellschaft verdeutlich eindrucksvoll vor allem der von Christian Günther einstudierte, in einer Melange aus Zwanziger- und Fünfzigerjahreanklängen kostümierte und als Kollektiv choreografierte Chor. Bei Andrea Schraad (Kostüme) ähneln sich auch Fürst Ottokar (solide: Andrzej Dobber), der versehrt am Stock gehende Cuno (Hubert Kowalczyk) und Caspar (mit der vokalen Vehemenz des Bösewichts: Jürgen Reuter). Während Han Kim als Eremit vokal etwas blass bleibt, vermag Willian Desbiens (vom Internationalen Opernstudio) mit seinem Kilian Lust auf mehr zu machen. Dass sich Angelka Gajtanovska, Lilian Giovanini, Marina Der und Veselina Teneva die Chance nicht entgehen lassen ihren Auftritt als Brautjungfern mit eigenen Akzenten zu versehen, versteht sich von selbst.
Damit das alles funktioniert und zu einem Gesamtkunstwerk wird, braucht es natürlich die musikalische Spannung aus dem Graben, die Yoel Gamzou am Pult des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg von Anfang an beisteuert. Mit manchmal bewusst eingesetzter Langsamkeit, dann aber wieder losschmetternd immer aber im Schulterschluss mit seinen Protagonisten.
Das Premierenpublikum applaudierte einmütig.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!