Beinahe auf den Tag genau zwei Jahre ist es her, dass das SWR Symphonieorchester, zwangsfusioniert aus dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, in der Stuttgarter Liederhalle sein erstes Konzert gegeben hatte. Im Rückblick ein nicht nur kulturpolitisch deplorabler Abend, auch künstlerisch war die Ausbeute mager, besonders das Adagio aus Mahlers zehnter Sinfonie zeigte, dass wohl erst einmal ödes Land zu durchschreiten war, bis sich eine blühende Orchesterlandschaft einstellen würde. Das lag nicht wenig am Dirigenten, Peter Eötvös, aber ebenso am widernatürlichen Zusammenschluss der Musikerhundertschaft.
Zwei Jahre danach ging es jetzt wieder mit Gustav Mahler, seiner dritten Sinfonie, in eine neue Saison, allerdings sehr viel optimistischer, denn der neue Chefdirigiert Teodor Currentzis leitete sein Antrittskonzert. Ausverkauft hieß es im Beethovensaal – das hat es lange nicht gegeben, auch in Stuttgart kämpft man mit dem allgemeinen Publikumsschwund, siehe die jüngst veröffentlichte Statistik des Deutschen Bühnenvereins.
Nach seiner Benennung hatten Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester erstmals im Januar dieses Jahres zusammengearbeitet; das Stuttgarter Konzert mit Anton Bruckners neunter Sinfonie, auf die attacca György Ligetis „Lontano“ folgte, führte zu einem denkwürdigen Ergebnis: Eine ganz auf die Werke konzentrierte Leistung, die am Folgeabend noch gesteigert wurde. Die Art der Verdichtung mag damals auch an Currentzis‘ fragiler gesundheitlicher Verfassung gelegen haben, denn bei seinem Einstand hatte er sich noch bis zum Nachmittag im Krankenhaus behandeln lassen müssen, Gerüchte sprachen von ernsten Momenten, ein Ersatzdirigent stand bereit.
Davon konnte nun am Donnerstag nicht die Rede sein. Statt papierener Blässe wirkte der griechische Wunderschlacks, der gerade erst in Salzburg bei den Festspielen mit seinem Ensemble MusicAeterna sämtliche Beethoven-Sinfonien aufgeführt hatte, bei dem die Kritiken allerdings sehr geteilt ausfielen, pumperlgesund, drahtig, hellwach. Die Erwartungen vor diesem Antrittskonzert waren riesig, der Südwestrundfunk hatte in den Tagen zuvor sozusagen die Losung mediales Dauerfeuer ausgegeben, der „Spiegel“ widmete dem 46-jährigen ein Porträt, die ARD-„Tagesthemen“ der Liaison einen Beitrag, der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, nebbich, saß im Parkett und der SWR-Chef Peter Boudgoust, der den Makel der Fusion mit einem Superstar am Dirigentenpult gerne schnell überschminken möchte, sowie etliche Dirigenten und Musikmanager. Alle warteten auf das Wunder von Stuttgart, wenigstens eine Sternstunde.
Sie bekamen viel, das nicht. Erfolge lassen sich vorbereiten: mit Akribie, fundierter Probenarbeit, Willen, Engagement und Herzblut der Beteiligten – all das lag hier vor. Der das Materielle überflügelnde Augenblick, nennen wir es kühn, die Transzendenz, stellte sich woanders ein, nicht im Beethovensaal. Das hatte sein Gutes: man imaginiere sich einen makellosen Abend, wohin will man da noch gehen?
Teodor Currentzis hatte es sich mit der Wahl des Werks nicht leicht gemacht. Es ist ausgemacht, dass Mahlers Dritte zusammen mit der Siebten die problematischste seiner Sinfonien ist – „Die Menschen werden einige Zeit an den Nüssen zu knacken haben, die ich ihnen da vom Baume schüttle“, schrieb Mahler. Allein der Kopfsatz, er ist bis dato mit 35 Minuten der längste in der Geschichte der Gattung, verästelt sich vielgestaltig in Episoden und heterogene Tonfälle; aufs Ganze gesehen ist er ein überdimensionierter Marsch. Michael Gielen merkte an, dass „die einzelnen Figuren, die einzelnen Gestalten ja nicht übermäßig kompliziert“ sind, das Problem sei die Länge, „also die Komplexität des gesamten Formverlaufs“. Energisch bei Currentzis die Eröffnung, der von Mahler selbst so genannte Weckruf, unisono von den acht Hörnern angestimmt. Für den Dirigenten ist dieses Thema nicht Einleitung, sondern konstitutiv (wie auch für Michael Gielen), weshalb er es nicht, wie man es oft hört, ebenmäßig singen lässt, sondern akzentuiert phrasiert. Satt, zugleich hochgespannt rasten in den Takten sechs bis acht die bestätigenden Quintfallschläge der Streicher und tiefen Bläser ein. Das ist ein wacher und energetischer Beginn, vielsprechend die Körpersprache der Streicher, und lässt auf viele Stunden genauer Proben schließen. Doch Currentzis wagt danach viel und gewinnt nicht immer, weil er – mutig – die Tempi breit nimmt. Sicher, der folgende Trauermarsch-Abschnitt mit Fetzen von Militärsignalen, an- und abgerissenen Trompeten-Triolen, soll „schwer und dumpf“ genommen werden, doch darf der Zusammenhalt nicht verloren gehen. Das ist eine Gratwanderung.
Das Orchester besteht sie souverän, mit sehr schönen Einzelleistungen (Solohorn und Solotrompete), der sinfonische Roman dagegen hat Lücken. Später führt Andreas Kraft im großen Posaunensolo mit mehr selbstbewusster Phrasierung als – durchaus möglich – fragender, auf die später erklingenden Nietzsche-Verse („Was spricht die tiefe Mitternacht?“) vorausweisender Gestik durch die Erzählung. Wunderbar plastisch gelingt dann in der Durchführung, soweit man solche tradierten Verlaufsformen hier zugrunde legen mag, die Amalgamierung von Geschwindmarsch und Bauerntanzattitude mit pumpenden Nachschlägen im tiefen Blech, den flirrenden Piccolo-Signalen, dazu die klezmerartigen Einwürfe der Es-Klarinetten (von Ziffer 44 bis 51). Das tönt, als hätten sich Gustav Mahler und Charles Ives verbündet. Vielleicht ist es kaum möglich oder erstrebenswert, all die auseinanderstrebenden, sich widerstreitenden Elemente in diesem Satz zusammenzubinden, der nach Theodor W. Adorno „seiner inneren Struktur nach, kein festes, sondern ein labiles Bezugssystem“ habe. Insofern folgte Currentzis‘ riskantes Vorgehen, nämlich die isolierten Momente nicht unter einen Großbogen zu binden, durchaus mimetisch der Dramaturgie des Komponisten. Riskant, aber lebendig war das in jedem Moment.
Die beiden folgenden Genresätze, ein Menuett und ein Scherzando, sind äußerst delikat zu realisieren. Denn einerseits sind sie Stilkopien, instrumentaltechnisch anspruchsvoll – wie ein wegbleibender Ton der Solooboe gleich zu Beginn zeigte –, andererseits sprechende Szenen mit Hintersinn und Poesie. Es braucht sozusagen imaginative Ironie, um die Affirmation zu hinterleuchten. Da machte es sich Currentzis vielleicht etwas zu bequem, fehlte dem ins Menuett dreinfahrenden Holzbläsergeschnatter samt den die Saiten mit den Bögen schlagenden Violinen, ihren folgenden Springbogensechszehnteln der rhythmische Biss – Mahler leuchtet da in die dunkleren Ecken des Eichendorff’schen Romantik-Waldes, der ansonsten zum Satzschluss hin mit Schmelz und atmosphärischen Glissandi heimelig grün angemalt wurde. Man muss diesen Rahmen des Als-ob auch im Scherzando mit dem berühmten, hinter der Bühne zu spielenden Posthornsolo (wunderbar schlicht und melancholisch zugleich: Jörge Becker, der am Schluss entsprechend gefeiert wurde) mithören, was etwas schwerfiel, weil das Orchester hier beinahe zu schön spielte, seine Exzellenz zeigte: erste Klarinette, die in Close Harmony schwelgenden drei Trompeten, die wirbelnden Streicher. Man konnte sich satthören.
Schade, dass darauf der vierte Satz mit dem Altsolo nach Worten aus „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche, „O Mensch! Gib Acht!“, obgleich mit „Sehr langsam. Misterioso“ bezeichnet, wegen Currentzis‘ allzu gemäßigtem Tempo auseinanderfiel. Das Geheimnisvolle stellte sich nicht ein, trotz Gerhild Romberger, die derzeit diese Partie beinahe bei allen großen Gelegenheiten gepachtet hat, zuletzt gab sie sie ausdrucksstark mit dem Hamburger NDR Elbphilharmonie Orchester und dessen designierten Chefdirigenten Alan Gilbert. Trotz der satten Fülle ihres Alts, dem weiten Atem, Currentzis brachte Romberger da an ihre Grenzen. Wenig Probleme, so auch hier, bereitet generell der fünfte Satz „Es sungen drei Engel“, sehr ordentlich die Damen des MDR Rundfunkchors und der Knabenchor collegium iuvenum Stuttgart. Einziger Einwand, warum Curentzis hier nicht wie von Mahler gewünscht, das Finale „ohne Unterbrechung“ folgen ließ. Dieser weitgespannte Satz („Was mir die Liebe erzählt“, so der Untertitel im Autograf der Partitur, im Erstdruck verzichtete Mahler auf die programmatischen Überschriften), zu Beginn ein choralartiges Gebet, lebte von der Fülle artikulatorischer Nuancen; Currentzis unterspielte nicht die durchaus süßlichen, in Oktaven gesetzten Aufschwünge in den Violinen – die ja zu den problematischen Seiten der Sinfonie zählen, manche sprechen von pseudoreligiösem Kitsch, der hier waltet. Soweit kam es jedoch nicht. Mit Noblesse, im Sinne von Mahlers, grammatikalisch skurriler Spielanweisung „Nicht mit roher Kraft. Gesättigten, edlen Ton“, strebte die kolossale Sinfonie zum D-Dur-Schluss. Konditionsstark bis zum letzten Ton die Kräfte des SWR Symphonieorchesters, herrlich synchron (bis auf einen Schlag) und peinlich genau intoniert die den Aufstieg zum Paradies markierenden Quart-Schritte der beiden Pauken – so klasse hört man das selten. Fülle des Wohllauts. Blumen. Ovationen.
Mit solchen Aufführungen, bei allen diskutablen Detailfragen, darf sich das Gespann hören lassen. Am 25. September gastieren Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester mit der Dritten in Wien. Aperçu: der andere neue Chefdirigent in diesem Jahr in Stuttgart, der Generalmusikdirektor der Staatsoper, Cornelius Meister, hat für sein erstes Sinfoniekonzert am 7. und 8. Oktober ebenfalls eine Mahler-Sinfonie programmiert: die nicht minder heikle Siebte.