Sie hat sich zurückgemeldet. Frankfurts Oper legt wieder den Finger in die Wunden der Zeit: Palästina-Konflikt, globalisierte Ökonomien, Geschlechterkämpfe. Drei Uraufführungen in zwei Spielzeiten. Aufträge an den israelischen Komponisten Lior Navok, an Péter Eötvös sowie an Rolf Riehm, das Frankfurter Urgestein. Für die Produktionen der beiden Letzteren hat sich der Vorhang bereits gehoben.
Der Erfindungskern ist in beiden Fällen klar umrissen. Hier wie dort Ausgangslagen, die alles andere als „verschwurbelt“ sind, wie manche hinterher meckerten. Für Rolf Riehm war es wie schon in der Vergangenheit die Odyssee, aus der er auch jetzt seine „Sirenen – Bilder des Begehrens und Vernichtens“ destilliert hat. Der Auslöser für Péter Eötvös ist das Sprechtheater. Fasziniert von Roland Schimmelpfennigs Erfolgsstück „Der Goldene Drache“ hat er daraus zu Ende der vergangenen Spielzeit, am Pult vor dem Ensemble Modern, eine Musiktheateradaption vorgestellt. Was hier wie da verhandelt wird, sind Themen der Zeitgeschichte.
Im einen Fall eitert ein Zahn. Nur, dass eine reguläre Behandlung nicht in Frage kommt. – Wir sind in der Küche eines „China-Vietnam-Thai-Schnellrestaurants“. Einer der illegal beschäftigten Imbissköche, ein chinesischer Arbeitsmigrant, hat üble Zahnschmerzen. „Ohne Papiere“ glauben die Kollegen, ihn nicht beim Arzt vorstellen zu dürfen. Man erledigt es selbst, mit der Rohrzange. Die Notoperation geht schief und „der Kleine“, der eigentlich nur seine Schwester sucht, verblutet.
Im anderen Fall blutet ein Herz. Eine Frau sieht sich betrogen um die Liebe ihres Lebens. – Wir sind in der Odyssee. Die Frau heißt Kirke, ist zauberkundige Herrscherin der Insel Aiaia, Klage. ER ist Odysseus, Troia-Rückkehrer. Nach einem Jahr geteilten Lagers ist die Sache für ihn erledigt. Was der gekränkten Kirke einen abgründigen Racheplan eingibt.
Wenn SIE ihn nicht mehr haben kann, soll ihn KEINE haben. Indem sie dem Treulosen verrät, wie er den Gesängen der Sirenen widerstehen kann, sind die Konkurrentinnen dem Untergang geweiht. Versagtes Liebeswerben bedeutet den Tod, wozu man früher Thanatos und Eros gesagt hat. Riehm schärft ins Indikativische, sagt „Vernichten“, lässt es dem „Begehren“ folgen.
Wobei er wie sein herumirrender Held einen unschätzbaren Vorteil aus seinem Status als „vielerfahrener Mann“ zieht: Denkt er an den Mythos, denkt er nicht an „Märchen aus uralten Zeiten“. Mag das Personal, mag das Setting seines Musiktheaters auch daraus bezogen sein, im Kern ist es von heute. „Kirke, die Sirenen, Odysseus – das sind Namen. In Wahrheit sind wir es selbst, die in den Konflikten von Liebe und Verrat, Abschied, Begehren, Sehnsucht und Todesdrift schier unterzugehen drohen.“ Eine Rechtfertigung, die Eötvös nicht nötig hat. Hier ist es der Konkretismus, der so überdeutlich ins Auge springt (genial mit dem eiternden Zahn, der die Abgründe der Globalisierung bloßlegt), dass das surrealistische Ende nur umso überraschender kommt.
Allerdings: So klar der Konfliktkern, so deutlich strukturiert die Architekturen beider Opernstoffe erscheinen – die szenischen Lösungen, die Elisabeth Stöppler für Eötvös’ „Drachen“, Tobias Heyder für Riehms „Sirenen“ gefunden haben, hat der Rezeption dann doch unnötige Hürden errichtet. Kontraproduktiv im Fall von Eötvös’ „Drachen“ bereits die vermüllte, zugerümpelte Bühne, auf der die Darsteller Mühe hatten, sich von Szene zu Szene zu hangeln und das Publikum seine liebe Not, zu sortieren. Am Ende dann aber (nach einem gepfeffert ungarischen Klangbild von bartok’scher Schärfe, wilder Dramatik mit lyrischen Passagen) die Kapitulation der Regie vor einem säuselnd apotheotischen Schluss. Da sinkt der kolossale Stoffdrache über der Szene in sich zusammen, um im Zurückfahren der Bühne Platz zu machen für den jetzt über den Tod triumphierenden „kleinen Koch“ im rituellen Festgewand der Kun-Oper. Ein Irrealis, zu dem die schmeichelnden Kantilenen von Kateryna Kaspers Sopran wunderbar passten. Eine buddhistische (Schein-)Lösung. Im Fall der „Sirenen“ war es Riehms Sample-Technik, die die Sache verkomplizierte. Rückblenden, Einschübe. Doch anstatt Gegenruder zu legen, wartete die Regie mit eigenen Einlagen auf, implementierte eine akrobatische Seiltänzerin sowie ausgiebiges Videozuspiel. Großaufnahmen, modisch Verwackeltes. Blut, Treppenaufgänge, leere Wohnungen, was man so kennt.
Was fehlte, waren Tugenden wie zurücktretende Zielgerichtetheit, Einfachheit, Strenge, die den Zellkern des Werkes freilegen. Eigentlich wundert man sich, wenn man liest, wie eng und über Jahre Komponist und Regieteam kooperiert haben. Was Riehms kraftvolle „Sirenen“-Musik gleichwohl nicht kompromittierte. Mit Martyn Brabbins am Pult des Frankfurter Opernorchesters hatte er den exzellentesten Bündnispartner, den er sich nur wünschen konnte. Die heulenden Rache- und Verzweiflungsarien der Kirke wie der Sirenen, ein ganzer brausend-klopfender Orchestersatz – dies alles schaufelte Brabbins aus dem Graben und warf es uns vor die Füße.