Natürlich ist die extreme Armut, in der vier Künstler aus Giacomo Puccinis „La Bohème“ leben, keine Neuinterpretation von zeitkritischen RegisseurInnen: es ist einfach so und in der Geschichte der Regie ist es meist schon lange so, dass keine Spitzweg-Romantik mehr gezeigt wird. Nachdem Benedict von Peter vor vielen Jahren eine skandalumwitterte Männerorgie gezeigt hatte, die das Publikum regelrecht zerriss, fand nun die Schauspielregisseurin Alize Zandwijk in ihrer ersten Oper zu einer ganz anderen Radikalität: die Tatsache der Armut, des Hungers, des Frierens, der Einsamkeit führte sie zur „Bremer Tafel“, die seit vielen Jahren Kleider und Essen an Bedürftige verteilt. Zur Zeit beträgt die Zahl der Bedürftigen über 2500 pro Woche, bei denen man ja davon ausgehen muss, dass die auch noch ihre Familien versorgen.
Was uns in der Oper angeht – Alize Zandwijks sozialkritischer Blick auf Puccinis „La Bohème“
Das zu zeigen, opfert Zandwijk stimmungsvolle Bühnenbilder – es gibt nur abstrakte Säulen und kalte Neonröhren (Bühne: Theun Mosk) und irgendwie passende Klamotten, alle haben sich aus den gespendeten Kleiderkisten bedient (Kostüme: Anna Sophie Domenz). Darüber hinaus ist das erste Bild – bei Puccini die Mansarde – auf einem Podest in das Publikum hineingefahren. Obschon man ja davon ausgehen kann, dass die vier niemals Teil eines zahlenden Opernpublikums sein können, ist doch die Idee packend: es ist unsere Gesellschaft, um die es hier geht.
Vorher haben OpernbesucherInnen haltbare Lebensmittel abgegeben, die nun im zweiten Bild in die Kisten der Tafel abgeben werden. Im Original ist das zweite Bild der weihnachtliche Markt im Pariser Quatier Latin, wohin Rodolfo seine neu gewonnene Mimi mitnimmt, hier ist es die Bremer Tafel, aus der alle versorgt werden: sich Essen holen und Klamotten ausprobieren. Eine tolle Idee, deren Wirkung sich aber nicht so richtig einstellen will: da müsste einfach mehr los sein.
Aber folgerichtig gibt es auch die letzten beiden Bühnenbilder nicht. Abstrakte und unwirkliche Örtlichkeiten lenken auf die Psychologie der Gespräche und auf die Feinheiten der Musik: da ist zuerst Mimis Besuch bei Marcello zu nennen, weil sie wissen will, warum Rodolfo sie verlassen hat. Stark aber auch das regelrecht oratorische zelebrierte Terzett im selben Akt. Und stark sind die Meriten der Inszenierung: Zandwijk vertraut auf Puccinis feine Präzision der Stimmungen und Erinnerungen und räumt dadurch der Musik allererste Priorität zu, die der neue erste Kapellmeister Sasha Yankevitch mit den Bremer Philharmonikern temperamentvoll und facettenreich nutzt – immer punktgenau.
Und es wird berückend gut gesungen: Adèle Lorenzi als gar nicht weinerliche, sondern sehr selbstbewusste Mimi, Elisa Birkenheier als Musetta, Oliver Sewell als Rodolfo mit ergeifenden Höhen, Elias Gyungseok Han als Marcello, Hidenori Inoue als Colline und Julian Arsenault als Schaunard. Wenn es gelingen soll, dass in der viel geschmähten Oper mehr als oft abgehandelt wird, was unser Leben ausmacht und was uns angeht, dann gehört diese bejubelte Inszenierung dazu – wir sahen die zweite Aufführung.
- Weitere Aufführungen: 13., 23., 25. und 29. Dezember 2024 und 9., 11., und 17. Januar 2025 und 14.2. 2025 und 5. 3. und 19.4. 2025.
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