„Dieses Orchester gibt es eigentlich gar nicht.“ Die Schauspielerin Jenny Schily war Patin für einen Klangkörper, der sich erst wenige Tage zuvor konstituiert hatte und dennoch keine Luftnummer war: das Campus-Orchester China-Europa. Nun saßen die jungen Musiker aus Shanghai, Tschechien, Polen und Deutschland auf dem Podium des Konzerthauses Berlin und spielten zusammen ein anspruchsvolles Programm. Campus-Projekte, bei denen Mitglieder zweier Orchester aufeinandertreffen, gehören zu den Spezialitäten des Festivals Young.Euro.Classic. 2004 hatte es mit der Begegnung von Letten und Spaniern begonnen, ein Jahr später fortgesetzt – ebenfalls noch mit Kommunikationsproblemen – mit Deutschen und Russen. Die besten Ergebnisse zeigten sich in diesem Jahr, obwohl die größte geografische und kulturelle Entfernung zu überwinden war.
Trotz dieser Distanz der Kulturen waren die Voraussetzungen besonders gut. Europa war repräsentiert durch das von Christoph Altstaedt geleitete Junge Klangforum Mitte Europa, in dem ohnehin schon drei Nationen mitwirken, und China durch das Orchester des Konservatoriums Shanghai, das kein Geringerer als Muhai Tang leitete. Als ehemaliger Chef der Königlichen Philharmonie von Flandern und der Finnischen National-oper Helsinki ist Tang, der 1983 bei den Berliner Philharmonikern debütierte, mit dem europäischen Musikleben bestens vertraut. Das zeigte er mit dem Schwung und der Detailgenauigkeit, mit der er Mendelssohns Italienische Symphonie musizieren ließ. Das Orchester, in dem jeweils ein Chinese und ein Europäer nebeneinander saßen, hatte zuvor unter Leitung des 26-jährigen Altstaedt kaum weniger überzeugend Prokofieffs Symphonie Classique und das anspruchsvolle Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken von Bohuslav Martin interpretiert.
Der hohe Anteil zeitgenössischer Musik, ein Kennzeichen dieses Orchesterfestivals, ging in diesem Jahr leicht zurück. Eine löbliche Ausnahme machte ausgerechnet das Campus-Orchester, das zwei Auftragswerke zur Uraufführung brachte. Die ansprechende Komposition „Xi“ (Dämmerung) von Mingwu Yin bestand aus flirrenden Klangflächen, die – korrespondierend zur solistischen Streichlaute Zhong-hu –periodisch an- und abschwollen und in der Stille verschwanden. Dagegen experimentierte die mährische Rihm-Schülerin Katerina Ruzicková in „Schwebung“ mit dem Übergang von Klang in Rhythmus. Dass ein solches Programm in nur sechs Probentagen so präzise realisiert werden konnte, beweist die enorme Integrationskraft, die die Jugendorchesterkultur inzwischen weltweit besitzt. Auf die Ovationen im ausverkauften Saal folgte als Zugabe noch Glinkas Ouvertüre zu „Ruslan und Ludmilla“, von Muhai Tang mit Showeffekt präsentiert.
Die Verbindung zum Fernen Osten, vor allem nach China, entspricht Deutschlands wirtschaftlichen Interessen. Die Energie Baden-Württemberg AG sprang deshalb als Sponsor für das Campus-Projekt ein. Politisch nicht weniger wichtig, jedoch komplizierter ist der Kontakt zum Nahen Osten. Noch vor dem Philharmonie-Gastspiel des West-Östlichen Divan Orchesters unter Barenboim und dem Auftritt der Tehe-ran Sinfonietta im Schloss Neuhardenberg spielte bei Young.Euro.Classic das Hochschulorchester aus Damaskus sowie das Symphonieorchester der Buchmann-Mehta School of Music Tel Aviv. Die Künstler aus Damaskus, darunter auch Musiker aus dem Libanon, aus Palästina und aus Jordanien, hatten nur dank der Intervention des syrischen Botschafters anreisen können. Es war überhaupt die erste internationale Tournee des noch unerfahrenen Ensembles, das unter der Leitung von Missak Baghboudarian neben Werken von Antonio Vivaldi, Peter Tschaikowsky und Aram Khatchaturian nicht weniger als drei deutsche Erstaufführungen bot. Mehr als die konventionell wirkenden Kompositionen von Dia Succari und Solhi Al Wadi interessierte wegen der Rhythmik und wegen des hauchigen Klangs des Soloinstruments das 2004 entstandene Konzert für Nai-Flöte und Orchester von Shafi Baddreddin.
Der 1972 in Beirut geborene Komponist hat sich auf arabische Instrumente spezialisiert und spielt selbst die Kurzhalslaute Oud. Sein Nai-Konzert, das traditionsreichste und modernste Werk des Programms, erhielt den stärksten Beifall. Das achttausendjährige Damaskus, das war an diesem vom DeutschlandRadio Kultur live übertragenen Konzert zu erfahren, ist stolz auf seine eigenen Traditionen, die es als ebenso „klassisch“ empfindet wie die europäische Klassik.
Ganz europäisch gab sich dagegen zum Abschluss des Festivals das israelische Symphonieorchester. Anders als beim syrischen Gastspiel durfte man hier erst nach Sicherheitskontrollen das Konzerthaus betreten. Dominique Horwitz, der Pate des Abends, machte in seiner Begrüßung El Quaida dafür verantwortlich. Es sei keine günstige Situation für Konzerte, denn es drohe die Vernichtung des Staates Israel. Auch mehrere der gespielten Werke verdeutlichten die Ausnahmesituation. „Shearim“, das neue Stück von Alona Epshtein, war vor allem eine von den Bratschen getragene Trauermusik. Von Bedrohung sprach auch Béla Bartók 1939 im Mittelsatz seines Divertimento für Streichorchester sowie Maurice Ravel 1919 in seinem Orchesterwerk „La Valse“. Unter Leitung von Zeev Doorman spielten die blutjungen, hochprofessionellen Musiker diese Werke trotzig und scharf, allerdings ohne weitere Finesse.
Einen merkwürdigen Kontrast zu diesen Katastrophenstücken bildete in seinem jubelnden Grundton Robert Schumanns Konzertstück für vier Hörner und großes Orchester. Unter den exzellenten Solisten war auch der Erste Solo-Hornist des Israelischen Philharmonischen Orchesters, das eng mit dieser Musikhochschule kooperiert. Vielleicht wollte man mit dem selten gespielten Werk neben Schumanns Todestag auch auf die guten Beziehungen zu Deutschland verweisen. Immerhin gehört Josef Buchmann, der Frankfurter Immobilien-Milliardär, zu den wichtigsten Förderern der Hochschule. Als Hommage an das Gastland wirkte auch die Zugabe, die mit warmem „deutschen“ Klang gespielte Oberon-Ouvertüre. Zum Abschluss wurde wieder der Preis der Publikumsjury verliehen, hochtrabend als „Europäischer Komponistenpreis“ bezeichnet. Trotz der finanziellen Beteiligung des Landes Berlin, die Beachtung verdient, hätte sich für eine solche Auszeichnung eigentlich nicht der Regierende Bürgermeister von Berlin engagieren sollen, sondern die Europäische Union. Diese ist trotz der Schirmherrschaft des Parlamentspräsidenten Fontelles längst als Förderer des Festivals ausgestiegen. Den diesjährigen Preis erhielt der norwegische Komponist Magnar Åm für sein Orchesterstück „Es ist nicht Schnee, der fällt, sondern wir, die vom Boden abheben“, das sich – so die Jury – „durch die Konzentration der Mittel und das Gefühl für den Raum“ auszeichne. Wieder gab es täglich lange Warteschlangen an den Konzertkassen. Dreizehn der insgesamt fünfzehn Konzerte waren komplett ausverkauft. Allerdings sah man unter den knapp 24.000 Besuchern weniger Jugend als in den Anfangsjahren. Ob dies an der leichten Erhöhung des einheitlichen Eintrittspreises lag?