Musik und Realität sind füreinander durchlässig und keine strikt geschiedenen Sphären. Das war schon bei Beethoven, Mahler und Nono so und ist es heute noch. Allerdings machen Schallisolation, Bestuhlung, Bühne, Werkzentriertheit, Aufführungspraxis, traditionelles Repertoire und Rezeptionsverhalten den Konzertsaal zu einem gegen die Außenwelt weithin abgeschirmten Ort. Doch Musik hat diese bürgerliche Kammer zugleich immer wieder geöffnet und transformiert, so auch bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Seit 1990 unter künstlerischer Leitung von WDR-Redakteur Harry Vogt wanderte das Festival regelmäßig hinaus in Stadt, Natur, Parks und Industriehallen und ließ umgekehrt Welt und Alltag in Musik und Konzertsaal eindringen. Der letzte von Vogt programmlich verantwortete und bereits von seinem Nachfolger Patrick Hahn praktisch umgesetzte Jahrgang spielte zwar fast ausschließlich im Wittener Saalbau mit vielen langjährigen Dauergästen des Festivals, bot dafür aber umso mehr Stücke mit für Umwelteinflüsse permeablen Werkgrenzen.
Offene Ohren für unsere tönende Lebenswelt hat seit jeher Carola Bauckholt. Die 1959 in Krefeld geborene Komponistin wurde mit sieben Werken porträtiert, die auf je eigene Weise Alltag musikalisieren und Musik veralltäglichen. Ihr „Witten Vakuum“ konnte 2020 nicht live uraufgeführt werden, obwohl in diesem Stück alle während der Corona-Pandemie als gemeingefährlich eingestuften Aerosole abgesaugt werden: Zwei Sängerinnen halten sich Staubsaugerschläuche an die Mundwinkel, so dass in Abhängigkeit von Gesichts- und Lippenspannung verschiedene Schlürf- und Flattergeräusche entstehen, und zwar nicht bloß als spaßiger Effekt, sondern exakt komponiert. Durch gleichzeitiges Singen und Saugen entfalten sich harmonische Spektren, melodische, rhythmische und formal wirksame Strukturen.
Ein Schlüsselwerk in Bauckholts Schaffen ist die Miniatur „Geräusche“, komponiert 1992 anlässlich des Todes von John Cage. Zwei Akteure bespielen Gegenstände wie Kassettenhülle, Seifentube, Käsereibe, Stifte, Plastikkästchen. In „Schraubdichtung“ werden leicht verfremdet artikulierte Wörter mit analogen Klängen verschraubt. Aus „Axt“ werden knallende BartókPizzikati und dumpfe Schläge auf einen Schlafsack. Zischlaute setzen sich in zerreißendem Zeitungspapier, Blas- und Streichgeräuschen fort. Das von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart aufgeführte „Nein allein“ von 2000 beginnt mit Verlegenheitslauten „hm“, „ja“, „Okay“ wie gegenüber einem monologisierenden Gesprächspartner, eskaliert dann aber zu wilden Flüchen „Fuck“, „Hau ab“, um schließlich in einvernehmlich artikuliertem „Apfelmus“ und „Mirabellenkompott“ zu enden.
Im Porträtinterview mit Hannah
Schmidt erklärte Bauckholt, sie könne angesichts der Klimakrise nicht mehr weitermachen wie bisher. Das von Karin Hellqvist uraufgeführte Geigensolo „Solastalgia“ schrieb ihren bisherigen Ansatz indes durchaus fort. Früher übersetzte Bauckholt bevorzugt Laute von Tieren, Scheibenwischern, Warntönen, knarrenden Türen und anderem in Instrumental- oder Vokalklänge. Nun ging es darum, Tonaufnahmen von arktischem Eis mit gespielten und elektronisch transformierten Violinklängen nachzubilden. Zu langsamem Gleiten, Hauchen, Schaben, Brummen zeigte Eric Lanz ein Video mit schneeweißen Salzkristallmustern, die von einsickerndem Wasser erfasst und durch rückläufige Filmwiedergabe wieder trocken wurden. Der Stücktitel ist ein Neologismus, den der Nachhaltigkeitsforscher Glenn Albrecht prägte, um die Angst vor Kommendem und die Trauer um Verlorenes zu benennen. Klangstrom und Bildfolge gerieten indes zu ruhig und ornamental, um aufrütteln zu können. Im Abschlusskonzert brachte Schlagzeuger Dirk Rothbrust mit dem WDR Sinfonieorchester unter Leitung von Lin Liao „Aus dem Geröll“ zur Uraufführung. Schläge auf Kieselsteinen verdichten sich zu schnellen Repetitionen und kontinuierlichen Reibeaktionen mit Kästchen, Töpfen, Bechern und Schüsseln unterschiedlicher Größe und Materialität, die, variantenreich über eine Holzplatte gezogen, anfangen zu wimmern, sprechen und mit den Violoncelli zu singen.
Radio-„Übertragung“
Wie Bauckholt war einst auch Manos Tsangaris Schüler von Mauricio Kagel. Anlässlich einhundert Jahren Radio in Deutschland lief sein szenisches Hörspiel „Übertragung“ an allen drei Festivaltagen je zwei Stunden lang. Acht Stationen im und vor dem Wittener Saalbau zeigten eine Art Making-of der Musiktage als Radiofestival. Im dunklen Kellerzimmer (alp-)träumte ein „Redaktor“ wie bei Sigmund Freud auf der Couch das von ihm verantwortete Festival. In „Trimedia“ leitete Moderator Niklas Rudolph locker-flockig durch eine Magazinsendung, gab pseudowissenschaftliche Erkenntnisse zum Besten („Radiohörer leben länger, hängt aber vom Programm ab“), leitete zu Landfunk oder nonsensartig verkürzten Nachrichten über und führte ein Interview mit einer alten Dame, die zwischen dem Publikum auf dem Sofa saß und selbstgebackenen Eierlikörkuchen anbot. In „Aufnahme“ beschäftigten sich Sopranistin Lidia Luciano (unser Titelbid) und Kammerensemble hand werk mit der Studioproduktion eines Stücks von Tsangaris, bei dem sie Mikrofone über Instrumente und knisterndes Papier bewegten, bevor sie aus dem Off vom Komponisten unterbrochen und um Wiederholung gebeten wurden. Stellvertretend für die Trennung von Produktion und Rezeption waren in „Radiotop“ Mikrofone und Empfangsgeräte durch einen Haufen Kabelsalat getrennt, der plötzlich ein gespenstisches Eigenleben entwickelte. Im Vergleich zu Tsangaris’ älteren Stationsstücken „winzig“, „Diskrete Stücke“, „Mauersegler“ oder „Schwalbe“ fehlte es der aktuellen Serie stellenweise an erhellenden Perspektivwechseln, kritischer Selbstbespiegelung und poetischer Verdichtung.
Im Konzert der ausgezeichneten Schola Heidelberg unter Leitung von Walter Nussbaum bot Yiran Zhaos „Fú Yóu“ ein lyrisches memento mori. Variantenreiches Atmen, Singen Sprechen und ein chinesisches Gedicht über die Eintagsfliege demonstrierten eindrücklich die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens. Benjamin Scheuers „Vier Attrappen“ camouflierten die vier Materialebenen Singen, Blockflöten, Elektronik und geblasene Flaschen wechselseitig bis zur Ununterscheidbarkeit, als sei eine Ebene das Abbild der anderen, wie in einem reziproken Kreislauf von Musik und Welt. Agata Zubel präsentierte mit „Schedule For Harmony of The Spheres“ ein hoch virtuoses Madrigal zu Stanislav Lems Kurzgeschichte „Ziffranios Erziehung“ über ein skurriles, defektes Orchester, das die Harmonie der Sphären verfehlt. Die Beschreibung des dysfunktionalen Instrumentalapparats verstand man in Witten als selbstironischen Kommentar zu den erweiterten Spieltechniken, Schräg- und Abgedrehtheiten der neuen Musik sowie als ein Gleichnis auf unsere aus den Fugen geratene kaputte Welt. Da Rettung nur noch in der Vereinigung des Menschen mit der Natur liege, verschmolzen alle Heterophonien und Dissonanzen gerade noch rechtzeitig im Schlusstakt zu perfektem Einklang. Neben Reflexionen des Verhältnisses von Musik und Welt gab es auch reichlich Wohlklang und tonale Harmonie. Im Konzert des Klangforums Wien ließ Eivind Buene mit „Doubles“ temperierte und rein intonierte Terzen sanft ineinandergleiten, gefolgt von Sara Glojnarićs ambientartig einlullendem, wohlig warmem „Pure Bliss“ inklusive kaum hörbar abgespieltem Lieblingssong der Playlist auf dem Smartphone des Dirigenten Vimbayi Kaziboni. In Patricia Alessandrinis „A Complete History of Music“ verpixelten Quatuor Diotima und Lautsprecherzuspielungen Musik von Monteverdi bis Schönberg zu einer durch den Raum flirrenden Glühwürmchenmusik. Bei Christian Masons „Invisible Threads“ wandelte das Publikum durch das Märkische Museum, während Arditti Quartet, Neue Vocalsolisten, Akkordeonist Krassimir Sterev und Bassklarinettist Gareth Davis in den Räumen immer wieder andere kontrastierende Klangachsen und kommunizierende Formationen bildeten. Anfangs ließen reduzierte Aktionen die akustische Tiefenstaffelung der Ausstellungshallen plastisch werden. Doch im Verlauf des gut einstündigen Spektakels verklumpten die zunehmend stärkeren und längeren Klangwolken immer mehr zu kantatenhafter Opulenz und Statik. Dass sich die mobilen Klangnetze auf die Myzelbildung von Pilzen beziehen sollten, erfuhr man nur aus dem Programmheft. Welche musikalischen Bahnen und Netze wird wohl der neue Leiter bei den Wittener Tagen 2024 spannen?