Die Oper in Schwerin ist eigentlich mehr für eine solide, eher konservative Saisonplanung bekannt. Diesmal eröffnet sie die Spielzeit mit einem echter Kracher, eine Oper als Groteske. Nichts Kleineres als der Weltuntergang ist ihr Thema, der vorausgesagt wird und nicht nur die Menschen in Aufregung versetzt.
Mehr jedoch plagt die Menschen nach wie vor die Gier nach Macht und Sex, nach Fressen und Saufen. Ligetis „Le Grand Macabre“, 1978 in Kopenhagen erstmals aufgeführt, zeigt das schonungslos mit einer diffizilen Musik, die alle Genres sprengt. Ihre Anspielungen, um die musikalische Welt zu umfassen, reichen weit zurück bis ins Mittelalter.
Wer am Freitag, dem 25. September 2021, in Schwerin die Premiere erlebte, durfte nicht allzu zart besaitet sein. Grund dafür war allerdings nicht das schauerlich schöne Szenario der Anti-Anti-Oper, wie Ligeti sie verstanden wissen wollte. Grund war auch nicht deren Ähnlichkeit mit dem Politthriller am Folgetag, dem Wahlsonntag. Unschwer war zu erkennen, dass beider Handlungskern annähernd gleich deftig und makaber wie komisch war, beide zudem eine zeitweise haarsträubende Geschichte um Macht und Ohnmacht und etwas Moral zur Grundlage hatten.
Auf der Drehscheibe
Es war ein anderer, viel banalerer Grund, weshalb das Publikum in Schwerin einiges ertragen musste. Es wurde nämlich von Regisseur Martin G. Berger auf die Bühne gebeten und dort auf harten Klappstühlen sehr direkt und laut und aus nächster Nähe mit der Opernrarität bedient. Der größere Teil des Publikums wurde etwas dadurch entschädigt, dass er auf der Drehscheibe herumgefahren wurde. Das gewährte in Sarah-Katherina Karls aufwändiger Bühnenausstattung einen ständig wechselnden Blick auf heftig flimmernde Projektionsflächen. Ganz oben war auf ihnen der Text mitzulesen, der hier einen Großteil des Opernvergnügens ausmacht, das jedoch nur durch einen stark gereckten Hals zu haben war. Ligeti selbst hatte ihn verfasst und seiner Lust an Slapstick und Zote, an Tiefem und Schrägem so recht Zucker gegeben.
Es gab allerdings auch eine Sitzreihe, von der man statisch von der Bühne in den leeren Zuschauerraum und auf die breite Herzogsloge blicken konnte. Sie war sinnreich auserwählt, war das standesgemäße Aktionsfeld des kindischen Fürsten Go-Go (Georg Bochow) und seiner beiden Minister, einer ein Angsthase, der andere ein frecher Rabe. Dem Zuschauer, der in diese Richtung blickte, bot man zudem als Ersatz für entgangenes Rotieren über Handkameras einen Einblick, einen naturgemäß nur flächigen in das Innere von einigen Guckkästen rundum. Der Einblick konnte plastisch werden, wenn der Hals diesmal horizontal verdreht wurde. Dann sah man die geheime Staatspolizei Gepopo, deren weiblicher Chef (Morgane Heyse) an geheimnisvollen Apparaten spielte.
Eine andere Installation, die Wohnung das Hofastrologen Astradamors (Nicholas Isherwood), besaß gleich zweieinhalb Etagen. Unten blickte man in den Waschkeller, darüber in sein Arbeitszimmer, in dem er, obwohl kein Wahlhelfer, die Zeichen für die sich ankündigende große Katastrophe entdeckte. Hatte er dort seine Arbeit getan, musste er auf etwas tieferem Niveau im Schlafzimmer seiner sexsüchtigen Ehefrau Mescalina (Gala el Hadidi) zu Diensten sein und kunstvoll gefesselt sich auspeitschen lassen.
Der böse Alkohol
In einem weiteren Kasten, dem größten, war das Fürstentum Breughelland verankert, der fiktive Handlungsort. Er war mit seinem parkähnlichen Gelände mitsamt Mülltonne das Zuhause für den versoffenen Piet vom Fass, seines Zeichens Wohnungsloser (Markus Sung-Keun Park). Von dort hatte er es nicht weit zum Zentrum der Bühne, das immer und allen Zuschauern präsent war. Hier befand sich eine kastenförmige Fläche, auf der vor allem Nekrotzar (Brian Davis) seine makabre Ungestalt zur Wirkung bringen konnte. Die Kostümbildnerin Esther Bialas hatte tief in die Fantasykiste gegriffen und ihm ein Aussehen zwischen Nosferatu und einem Frankenstein auf Plateauschuhen verordnet. Eine Höchstleistung muss die Maskenbildnerei bei jeder Aufführung erbringen, damit dessen Kopfaufsatz der kräftigen Baritonstimme Durchlass erlaubt.
Es sei vermerkt, dass in ihm, dem zentralen Helden und Todesfürsten, keiner der Politakteure des Wahltages irgendwie zu erkennen war, obwohl ein paarmal auf das Geschehen am Sonntag angespielt wurde. Aber dieser Protagonist scheiterte, und das gehörig, nur an anderem. Auslöser dafür war die Bekanntschaft mit Tippelbruder Piet, mit dem zusammen er tüchtig Alkohol konsumierte.
Der Erfolg war erstens, dass er seine Insignien, Sense und Trompete, nicht wiederfand. Zweitens musste er erleben, dass etwas noch mächtiger war als er, nämlich der Alkohol. So verschlief er die Katastrophe, die Astradamors voraussagte. Sie hätte die Krönung seines Amtsgeschäfts werden können, war nun ganz simpel das bittere Ende seiner Karriere. Das hatte zudem die scheußliche Folge, dass wegen seiner Schwäche etliche der Todeskandidaten erwachten, besonders hochnotpeinlich bei Mescalina, seiner Verflossenen. Seine Reputation war hin, bei ihr und anderen, was die Skepsis förderte, ob er wirklich der Zar der Unterwelt oder nur ein Sterblicher war.
Den Zweifel beheben konnte einzig eine neue Moral, die manches Werk beendete. Lorenzo Da Pontes zum „Don Giovanni“ wirkt heute hausbacken, wenn er Gegenspieler erkennen lässt: „Also stirbt, wer Böses tat.“ Auch Brecht steht Ligeti nach, der „den Vorhang zu und alle Fragen offen“ lässt. Wenn aber keiner den Tod fürchten soll, kann nur Ligetis lakonischer Rat helfen: „Und wenn er kommt, dann ist’s soweit. Lebt wohl, so lang in Heiterkeit!“
Schluss
Damit ist aber die Schlusspointe zum großen Finale schon vorausgenommen, die zu genießen eine entspannte Freude auf samtig weichen Sesseln wurde. Das kam so: Etwa eine halbe Stunde vor Schluss schien die Regie Mitleid zu haben, befahl den Abmarsch von der Bühne und stellte so die gewohnte Distanz zwischen Akteuren und Publikum wieder her: Ein gutes Ende also, zumal jetzt auch die Musiker der Mecklenburgischen Staatskapelle unter Mark Rohdes Leitung zu sehen und zu hören waren, vor allem die Schlagzeuger und die Blechbläser links und rechts in den Logen, etwas weniger die anderen im Graben. Auf der Bühne vorher war es nicht so einfach, die instrumentale Begleitung zu verfolgen, da die Nähe der stimmstarken Sängerinnen und Sänger zum Ohr der Zuhörenden manches überdeckte und die durch die Sitzreihen wuselnden Akteure Aufmerksamkeit verbrauchten.
Die aberwitzige Handlung – sie konnte hier nur in einigen Ansätzen angedeutet werden – verlangte das ganze, teils bewundernswerte Können der Akteure als singende Schauspieler, als Tänzer und Kameraleute. So wäre es der Leistung aller angemessen, jeden zu nennen, bei so vielen Mitwirkenden allerdings schier unmöglich, zumal einige im Wandel der Zeit schamvoll neue Namen erhielten. Kinder, die auch im Publikum saßen, hätten sicher gefragt: „Papa, warum heißt die Clitoria und der Spermando“? Da waren deren neue Namen Amanda (Cornelia Zink) und Amando (Karina Repowa) unverfänglicher. Etwas von der erotischen Konnotation war aber bei den beiden wohlklingenden Sopranen erhalten geblieben. Sie trugen fleischfarbene Ganzkörperbodies und sahen fast nackt aus. Neugierigem Nachwuchs wäre möglicherweise auch zu erklären, warum Venus, Nekrotzars Gegenspielerin, sexy Brustbehaarung trug (Magnus Röhsen), aber nicht sang, während eine lockend schöne Sopranstimme aus dem Off erklang (Morgane Heyse).
Fazit
Man darf den Mut eines Hauses wie das in Schwerin bewundern, mit „Le Grand Macabre“, einem aberwitzigen Werk der Neuen Musik in eine Saison zu starten und zugleich zu hoffen, dass das Publikum folgt. Bei der Premiere tat es das und applaudierte der musikalisch wie szenisch sehr komplexen Inszenierung. Ob allerdings die eigenwillige Regie mit ihrer Reizüberflutung dem Werk diente, sei bezweifelt. Sie wollte offensichtlich die Chance nutzen, die Corona bot, einem kleinen Publikum, einem an Absonderlichem interessierten, etwas ganz nahe bringen.