Das Forum diskutiert. Keine Diskursform, die im Foyer des Kölner Deutschlandfunks an diesem sonnigen Aprilwochenende nicht probiert worden wäre. Moderierte Roundtables, musikbegleitete Workshops, Vorträge, Lectures, dazu eine Matinee im Kammermusiksaal des Kooperationspartners Musikhochschule, ihrerseits gespickt mit Referaten, konzertanten Darbietungen, Gesprächsrunden. Dass dasselbe Forum auch musizierte, intensiv, auf hohem Niveau, versteht sich für ein Festival zeitgenössischer Kunstmusik von selbst. Ein vollgepacktes Wochenende im DLF-Sendesaal, in der Hochschule für Musik und Tanz und traditionellerweise auch in der Kunststation St. Peter bestätigte vor allem diesen Eindruck: Unter allen Festivals für Neue Musik ist das DLF-Frühjahrs-Forum das diskursfreudigste, wobei sich die mittlerweile sechzehnte Ausgabe einem Thema stellte, das einen derartigen Wortmarathon tatsächlich doch weitgehend redundanzlos bewältigen konnte.
Kein Wunder. Mit „Ostasien modern“ hatte Neue-Musik-Redakteur Frank Kämpfer für den Gastgeber Deutschlandradio ein Eisen angefasst, das an allen Stellen ausreichend heiß war, um es an Ort und Stelle schmieden zu können. Nachvollziehbar, dass manche, zumal chinesische Diskursbeteiligte es vorzogen, solch glühend Ding erst einmal ins Wasserbecken zu tauchen, zum Abkühlen. Just übers Wochenende sorgte nämlich die allgemeine Nachrichtenlage dafür, dass man sich durchaus seinen eigenen Reim darauf machen konnte, wie modern Ostasien so ist, in diesem Fall eine Volksrepublik China. Ziemlich parallel zur Diskussionsrunde „China in der deutschen Öffentlichkeit“ – und noch paralleler zu einem sich jovial gebenden Attaché von der Berliner Botschaft – wurde man als Zeitungsleser mit dem Schicksal der für die Deutsche Welle arbeitenden Journalistin Gao Yu konfrontiert: Sieben Jahre Haft wegen „Verrats von Staatsgeheimnissen“. Yu hatte ausländischen Medien das „Dokument Nr. 9“ zugespielt, in der die Staatspartei vor westlichen Werten, insbesondere vor der Pressefreiheit warnte. Auch dies eine der diversen Facetten von „Ostasien“ respektive „China modern“. Selten schien ein Forum-Thema so den Realitätsnerv zu treffen wie dieser Schwerpunkt, prominent ausgewiesen durch die erstmals ausgelobte Forum-Komponistin in residence Ying Wang, eine seit 2003 in Köln lebende York-Höller- und Johannes-Schöllhorn-Schülerin.
Wunschbild
Gegen die Tendenz, alles, zumindest aber das Unangenehme wegzulächeln, gelang es einem der Komponistin gewidmeten Workshop, durch beharrliches, nicht weniger von Empathie getragenes Nachfragen, das Beschweigen von Neuralgischem zumindest partiell aufzubrechen. Fast am Ende, man hatte die Hoffnung schon aufgegeben, begann Wang auf einmal zu erzählen, wie auch sie in ihren ersten Jahren am „Heiligen Theater Darmstadt“ Maß genommen und wie sie, wie alle Chinesen in Europa, erst einmal angefangen habe zu imitieren. Bei manchen der während des Forums vorgestellten Kompositionen war denn auch tatsächlich eine geläufige Neue-Musik-Schreibweise heraushörbar, hinter der nicht selten Kalligraphisch-Stimmungsvolles aufschien, von dem man wiederum den Eindruck nicht los wurde, dass es den Komponisten entgangen war. In diesem Fall allerdings war Ying Wang schon einen Schritt weiter, habe sie doch bemerkt, so die Komponistin, dass sie ihre so schön aufgesetzten Stilkopien nicht habe weiterkomponieren können. Sie habe sie abbrechen müssen. Ein erfrischender Moment von (Selbst-)Erkenntnis, der beglaubigte, dass man hier einer jungen Künstlerin begegnet war, die möglicherweise tatsächlich auf dem Weg ist zu so etwas wie „Individualität“, zu einer Ausdrucksweise also, die nicht nur vorgibt, unverwechselbar, unaustauschbar zu sein.
Mit „Focus-Exchange“ für Bassklarinette (souverän: Nina Janßen-Deinzer) und Elektronik wollte Wang das Verhältnis von „Traum und Realität“, den „Wahrheitsgehalt der Wahrnehmung von Realität“ thematisieren. Szene- respektive Genre-Kenner zweifelten hinterher sicher nicht ganz zu Unrecht am behaupteten Novitätenwert. Doch darauf kam es in diesem Fall wohl am allerwenigsten an. In seiner bebenden, jede Äußerung kontinuierlich unter der Decke haltenden Expressivität mit all den dunkel leuchtenden Klangfarben war dieserart „Focus Austausch“ eine hochpolitische Angelegenheit – auch, wenn dies für diskurs-, also exchangeerprobte West-Ohren sicherlich nicht in jedem Fall auch gleich einsichtig ist. Austausch, jenes hohe Gut, das man in einer Volksrepublik China offenbar (noch) nicht so richtig im Curriculum hat, ist ja beides: Nehmen und Geben. Letzteres markiert, zumindest was Ostasien modern betrifft, das Problem. Das in allen Diskussionen rauf und runter bestätigte Wunschbild der musikaffinen Chinesen, der eigene Sprössling möge ein zweiter Lang Lang werden, drückt dies aus. Doch ganz abgesehen vom Problem Lang Lang – in der Kunst ist die Komponiermaschine bestenfalls ein schöner Witz, definitiv aber kein Weg.
Atmendes Klarsein
Eine Einsicht, die in Wort und Musik markant bestätigt wurde vom künstlerischen wie menschlichen Herzschlag des Forums, der großen alten Dame Younghi Pagh-Paan. In ihrem sehr persönlich gehaltenen Referat schilderte sie ihre, ihr ganzes Kunstdenken bestimmende Begegnung mit Luigi Nono, wie dieser immer wieder mangelndes „Intervallbewusstsein“ kritisiert und wie sie selbst dann entdeckt habe, wie opulent Nono seine Partituren mit allen möglichen Sorten von Fermaten angereichert hat: Das Anhalten, das Sinn überhaupt erst kreiert, der verweilende Augenblick, der dem Schönen Platz macht. Das große Lob der Gedanken-Pause also, weswegen Younghi Pagh-Paan denn auch sehr angetan war von einem nur aus einem einzigen accellerierenden Trommelschlag bestehenden Stück des jungen Karlsruher Komponisten Nico Sauer, vorgeführt mit kompromisslosem Kunstwollen von Perkussionsguru Isao Nakamura. Will sagen: Nicht die Anzahl der Noten macht die Musik. Auch dies konnte man mitnehmen von einem Forum, das Ostasien modern insgesamt mehr als Aufgabe denn als Tatsache verstand. Es sei denn, man verstünde darunter das vorwegnehmende Tatsachenbilden der Kunst. Im musikalischen Teil des Forums begegnete es im Klangdenken Pagh-Paans, der unentwegt freundlichen, ihren Studenten so zugetanen koreanisch-deutschen Komponistin. Etwa wenn das von David Smeyers wunderbar eingestellte Kölner Hochschul-Ensemble 20/21 ihr cellobegleitetes Saxophonquartett „Imaginärer Tanz einer Dichterin II“ zur Ausführung brachte. „Das atmende Klarsein“, das die Künstlerin an Nono gepriesen hatte – hier erschien es selbst.
Schließlich: Dass Ostasien modern dort, wo es glaubwürdig, wo es tragfähig ist, stets das reflexive Moment mittransportiert, bestätigte ein fesselndes Abschlusskonzert mit Isao Nakamura, eigentlich Okamura and family. Denn – auch darin begegnet Ostasien modern – Okamura, das ist ein japanischer Schlagwerker, der im badischen Karlsruhe eine Professur wahrnimmt, der mit einer in Japan als dem vormaligen Aggressor geborenen koreanischen Pianistin Kaya Han verheiratet ist, zusammen mit dieser in Gestalt von „Solo for Duo“ eine Arbeit der chinesischen Komponistin Ying Wang interpretierte und der dann am Ende in Ena Han eine famose Tochter auf die Bühne schicken konnte, die in koreanischer Tracht den rituellen Trommeltanz „Ogomu“ hinlegte. Umwerfend. Ein Trommelfeuer, mit dem eine glückliche Forum-Dramaturgie ein finale furioso in Szene setzte, um darin noch einmal die stärksten Facetten künstlerischer Existenz Ostasiens zu beleuchten. Ziemlich modern.